Nahostexperte Jochen Hippler: "Luftangriffe schützen die Bevölkerung nicht"
Archivmeldung vom 22.03.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Nahostexperte Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen befürchtet, dass die militärische Intervention Gaddafi nicht entmachten und den blutigen Krieg in die Länge ziehen wird.
"Die Angriffe können zwei Ziele verfolgen: Den Schutz der Bevölkerung, das ist legal. Und den Sturz Gaddafis - das widerspräche dem UNO-Beschluss", sagte Hippler den Zeitungen der Essener WAZ-Mediengruppe. "Die Luftangriffe werden aber beide Ziele nicht erreichen", so der Wissenschaftler vom Institut für Frieden und Entwicklung (INEF) der Universität. Man könne die Zivilbevölkerung mit einer Flugverbotszone nicht wirksam schützen. Luftangriffe könnten nur wirken, wenn es klar identifizierbare Konfliktparteien gibt. "In Libyen aber gibt es wie in Afghanistan zahlreiche Gruppen, die derzeit ihr eigenes Süppchen kochen". Da seien Unabhängigkeitskämpfer, Verbrecherbanden, Demokraten, Stämme, extremistische Organisationen, "und im Süden bewaffnen sich derzeit Männer, um nun an der Seite Gaddafis einzugreifen." Nicht, weil sie dem Diktator helfen wollten, sondern um zu verhindern, dass der Osten mit seinen Öleinnahmen sich abspaltet. "In so einer Situation helfen Luftangriffe womöglich Leuten, denen man gar nicht helfen will. Das ist nicht richtig schlau."
Er sieht nur einen Ausweg: Wenn man der Bevölkerung helfen wollte, hätte man humanitäre Hilfe leisten und Blauhelmsoldaten mit einem robusten Mandat zwischen den Konfliktparteien platzieren müssen. "Man kann den Menschen nicht helfen, wenn man mit einem Flugzeug über sie hinwegfliegt, man muss unten vor Ort sein." Wenn die Angriffe nach einigen Wochen ohne Erfolg bleiben, wenn Gaddafi weiter morden lässt, werde im Westen unweigerlich eine Diskussion um die Entsendung von Bodentruppen beginnen. Hippler: "Wir haben wieder eine Politik, die die Sache nicht vom Ende her denkt."
Ex-NATO-Chef Jaap de Hoop Scheffer bedauert deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat
Der ehemalige NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer bedauert, dass sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat bei der Resolution über einen Militäreinsatz in Libyen enthalten hat. "Aber ich kenne Deutschland sehr gut, ich kenne die deutsche Geschichte, ich kenne die deutsche Politik. Es kam also für mich nicht als eine sehr große Überraschung. Aber für Europa, für die Europäische Union und für die NATO ist das nicht hilfreich", sagte er im PHOENIX-Interview. Jetzt müsse man abwarten, wie sich die NATO verhalte. Er begrüßte das Angebot der Bundesregierung, als Ausgleich das deutsche Engagement in Afghanistan auszubauen und weitere Bundeswehrsoldaten für den AWACS-Einsatz zur Verfügung zu stellen. Aber er habe gehofft, "dass es im Sicherheitsrat vielleicht klappen würde", so de Hoop Scheffer. "Jetzt gibt es in der NATO eine ganz komplizierte Situation." Frankreich und Deutschland seien sich nicht einig. "Das ist nicht gut für die NATO und nicht gut für die Europäische Union."
UN-Resolution: Ex-Außenminister Fischer kritisiert deutsche Enthaltung scharf
Ex-Außenminister Joschka Fischer hat die deutsche Enthaltung bei der UN-Resolution zur Flugverbotszone über Lybien im Weltsicherheitsrat scharf kritisiert und den Libyen-Einsatz mit dem Kosovo-Krieg verglichen. Wie die in Düsseldorf erscheinende "Rheinische Post" in ihrer Dienstagausgabe berichtet, sagte der Grünen-Politiker bei einer Veranstaltung in Köln: "Eine solche Selbst-Isolierung Deutschlands hat es noch nicht gegeben. Wenn Bengasi gefallen wäre, hätte das bedeutet, dass andere den Preis für unser Nichts-Tun bezahlen würden." Dass Westerwelle sich in Ägypten von der Demokratiebewegung feiern lasse, könne er verstehen, sagte Fischer. "Wie er das aber mit seiner Haltung zu Libyen erklären will, kann ich nicht mehr verstehen."
Steinbach kritisiert Militäreinsatz gegen Libyen
Der Nahostexperte Udo Steinbach kritisiert den internationalen Militäreinsatz gegen Libyen scharf. "Dieser Militäreinsatz ist in höchstem Maße fragwürdig, die Folgen sind unkalkulierbar", sagte Steinbach der "Neuen Presse" aus Hannover. Diejenigen, die im Osten des Landes aufgestanden seien, seien nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerung in Libyen. "Für die einen Feldzug zu wagen, ist sehr fragwürdig. Riskiert wird damit eine Spaltung des Landes." Man müsse sich fragen, was das für eine Revolution sei, die vom Westen herbeigebombt worden sei. Steinbach fügte hinzu: "Welche Legitimation wird sie unter Kräften in Libyen haben, die aus welchen Gründen auch immer weiter zu dem Diktator stehen?" Der Islamwissenschaftler machte darauf aufmerksam, dass auch in Bahrein ein Aufstand mit hoher Brutalität niedergeschlagen werde, "die Saudis mischen sich sogar noch auf Seiten des Regimes ein - wo bleibt da die äußere Einmischung", fragte er. Dass die Europäische Union die Sanktionen gegen Gaddafi verschärft habe, habe keine politische Bedeutung. Das sei die deutsche Linie. Die Sanktionen habe Außenminister Guido Westerwelle wiederholt angekündigt. "Das ist das Feigenblatt, das man sich in einer Situation umhängt, da man in der Europäischen Union und in der Nato ziemlich isoliert dasteht", sagte Steinbach.
Jan van Aken zu Libyen: Ziellos ins Chaos
"Während die massiven Bombenangriffe gegen Ziele in Libyen weitergehen, sind die ersten zivilen Opfer zu beklagen. Libyen braucht einen sofortigen Waffenstillstand, bevor das Land endgültig im Kriegschaos versinkt", fordert der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Jan van Aken. "Die Koalition der Kriegswilligen spielt Gaddafi mit jeder Bombe, mit jedem Angriff in die Hand. Der Versuch der Kriegskoalition unter dem Deckmantel der UN-Resolution den Regime Change in Libyen herbeizubomben, führt zu einer unabsehbaren Eskalation und ist ein glatter Völkerrechtsbruch."
Van Aken weiter: "In der Koalition gegen Gaddafi herrscht völliges Chaos. Frankreich betreibt die weitere Eskalation des Konflikts, die Arabische Liga schert bereits wieder aus, die NATO ist paralysiert. In Libyen ist kein Ende der Kämpfe in Sicht. Über die Ziele der Angriffe herrscht völlige Unklarheit.
Während SPD und Grüne den Krieg nicht nur für führbar, sondern sogar für wünschenswert halten, verspielen Westerwelle und Merkel gerade die Chance, eine zentrale Vermittlerrolle einzunehmen, indem sie die mittelbare Beteiligung Deutschlands am Krieg in Libyen ausweiten. Deutsche Soldaten in AWACS-Flugzeugen über Afghanistan, damit die Besatzungen der AWACS-Flugzeuge über dem Mittelmeer besser die Raketen ins Ziel führen können. Die USA dürfen unbehelligt ihre Angriffe auf Ziele in Libyen von Deutschland aus planen. Gerade in Stuttgart, wo Mappus um sein politisches Überleben kämpft, ist auch das Africa Command der US-Armee angesiedelt, von dem aus der Krieg gegen Gaddafi koordiniert wird. Einen Diktator, den alle westlichen Mächte noch bis vor kurzem hofierten. Das Risiko des Krieges, von vielen Jahren Tod, Leid und Zerstörung in Libyen, nimmt somit auch die Bundesregierung in Kauf."
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung / PHOENIX / Rheinische Post / Neue Presse Hannover / Fraktion DIE LINKE. im Bundestag