Bidens Niederlage in Afghanistan: Experten diskutieren über Folgen des überstürzten US-Abzugs
Archivmeldung vom 17.08.2021
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Freigeschaltet durch Anja SchmittFür Herbert Martin, Präsident des International GeoPolitical Institute in Wien, ist es ein totales Versagen der USA und der Nato. Die Finanzleute würden sagen: „Stranded Investment“. Ihre Afghanistan-Mission mit dem Ziel, Al-Kaida und die Taliban* zu besiegen und die Demokratie westlicher Prägung hineinzutragen, ist auf allen Ebenen gescheitert. Dies berichtet das russische online Magazin „SNA News“ .
Weiter ist auf deren deutschen Webseite dazu folgendes geschrieben: "„Die Amerikaner haben nach einem Krieg oder Unruhen noch nie eine Demokratie hineingebracht“, sagt er im SNA-Interview, „auch nicht bei dem lange Zeit verbündeten Saudi-Arabien. Auch dort haben sie es nicht geschafft. Die USA haben die Stärke der Taliban, die nicht wirklich vernichtet, sondern nur zurückgedrängt wurden, unterschätzt.“ Der Geopolitiker erinnert daran, dass die Taliban einmal eingesetzt wurden, um die Sowjetunion zu bekämpfen. „Man wollte scheinbar nur möglichst nahe an den Pelz des russischen Bären heranzukommen.“
Martin meint, dass Biden doch den richtigen Schritt gemacht habe, um einfach mit diesem Krieg, der nie zu gewinnen ist, aufzuhören. „Das Tragische ist, dass Biden dieses Projekt von Präsident Bush übernommen hat. Er hat mit der Aktion 9/11 eigentlich den Startschuss gesetzt, in den Irak und nach Afghanistan zu gehen, um Al-Kaida, ,alle diese bösen Araber‘ zu bekämpfen. Es war eigentlich seit langem naheliegend, dass Amerika in Afghanistan genauso wie in Vietnam nie gewinnen kann.“
„Und jetzt tun die Amerikaner und die Nato so ganz überrascht“, so der Experte. „Dass es so schnell ging, ist verlogen, ein absoluter Blödsinn, nur fürs breite Volk bestimmt. Die Taliban waren bekannt, dass sie kampferprobt, gut organisiert und mit amerikanischer Waffentechnik ausgerüstet sind. Jetzt ist Afghanistan für den Westen komplett verloren. Russland und China werden sich intensiv um Afghanistan kümmern und den Wiederaufbau bewerkstelligen. Für Russland kommt noch dazu, dass es mit allen Mitteln eine humanitäre Katastrophe an der Südflanke Russlands verhindern muss. Wenn hier ein Unruheherd entsteht, kann es auch nach Russland hineingezogen werden.“
Zurückhaltende Politik Russlands
Deshalb habe Russland aus der Sicht des Vizepräsidenten der Russischen Akademie für Raketen- und Artilleriewissenschaften, Konstantin Siwkow, sich strategisch und taktisch ganz richtig verhalten. Nun habe das Land gute Chancen, die Lage in Afghanistan zu beeinflussen. Der Experte hat nach seinen Worten die militärische Niederlage der USA noch 2006 klar erkannt.
„Seit 20 Jahren haben die USA versucht, das Territorium von Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen“, sagte er während einer Experten-Diskussion in der Nachrichtenagentur „Rossiya segodnya“. „Sie haben ein weiteres Mal demonstriert, was auch im Irak der Fall war, dass die amerikanischen Streitkräfte nicht imstande sind, die Schlüsselaufgabe eines jeden Krieges zu lösen, nämlich das Territorium unter Kontrolle zu stellen. Ungeachtet des wahnsinnigen Aufwands sind sie kein wirksames Werkzeug der Globalpolitik. Dies hat eben die USA gezwungen, nicht nur den Irak und Afghanistan zu räumen, was eine Folge der militärischen Niederlage war, sondern im Allgemeinen mit der Einschränkung ihrer geopolitischen Aktivitäten zu beginnen.“
Optimistisch gestimmt ist auch der Politologe und Chefredakteur der Zeitschrift „Russland in der Globalpolitik“, Fjodor Lukjanow. Ihm zufolge betreibt Moskau eine durchaus rationale Politik gegenüber den Taliban, indem es dem unnötigen Konflikt ausweicht. „Die Taliban haben einen klaren Sieg erfochten und werden nun die ganze Macht in Afghanistan an sich reißen. Da wird Russland unter zwei Wegen zu wählen haben: entweder, wie in den 90er Jahren, sie isolieren und zu beseitigen versuchen, aber die Auswirkungen davon müssen wir immer noch auslöffeln. Oder man versucht, sie anzuerkennen. Wenn die Taliban nur keine offenbaren Dummheiten begehen, wird die Welt sie nach und nach akzeptieren. Russland und China würde es sogar leichter fallen als dem Westen, denn wir haben keine Verpflichtungen übernommen.“
Lukjanow betont, dass nun alles davon abhängen werde, für welche Politik sich die Taliban entscheiden. Während der Gespräche in Moskau haben sie versprochen, Russland und die zentralasiatischen Länder unbehelligt zu lassen, da sie ausschließlich Afghanistan interessiere. Der Politologe neigt dazu, es ihnen zu glauben, weil die Taliban eine nationalistische Bewegung sind. „Da die Taliban aber die entscheidende Kraft in Afghanistan darstellen, wäre es dumm, keine Beziehungen zu ihnen zu haben. Also ist es eine große Errungenschaft unserer Diplomatie.“
Wichtig sei einzusehen, fährt der Experte fort, dass daraus nicht folge, „wir würden die Taliban mögen und ihnen vertrauen. Eher das Gegenteil. Aber die aktuellen Fragen müssen erörtert werden, indem man die Sicherheit der russischen Bürger in Kabul gewährleistet. Dank dieser Position fühlt sich Russland relativ sicher, während in den westlichen Botschaften totale Panik herrscht.“
Wladimir Jewssejew vom Institut für die GUS-Länder meint, der politischen Führung der Taliban liege im Moment viel daran, sich vor der Weltgemeinschaft legitimieren zu lassen. „Dies würde möglich sein, falls sie den radikalen Teil ihrer Bewegung von Handlungen abhalten, die katastrophal wirken. Die politische, vor allem aber die finanziell-wirtschaftliche Isolation Afghanistans würde den Fortbestand dieses Staates in Frage stellen.“
Die Taliban haben eine Woche gebraucht, um Afghanistan einzunehmen. Am Sonntag, dem 15. August, sind sie in der afghanischen Hauptstadt Kabul einmarschiert. Der Präsident Aschraf Ghani und die meisten Minister sind ins Ausland geflüchtet. Menschen, die nicht von Extremisten beherrscht werden wollen, versuchen, über den Flughafen von Kabul aus dem Land zu entkommen."
*unter anderem von der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan, Belarus) als Terrororganisation eingestuft, deren Tätigkeit in diesen Ländern verboten ist.
Quelle: SNA News (Deutschland)