BND beschaffte "Nowitschok" mit Geheimoperation aus russischem Labor
Archivmeldung vom 16.05.2018
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Erkenntnisse über eine einst in der Sowjetunion entwickelte Klasse von Kampfstoffen namens "Nowitschok" geht maßgeblich auf eine bis heute geheim gehaltene Operation des Bundesnachrichtendienstes (BND) zurück. Nach gemeinsamen Recherchen der Wochenzeitung DIE ZEIT mit dem Rechercheverbund von Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR, beschaffte ein Informant des Dienstes in den neunziger Jahren eine Probe des Stoffes. Auch die Bundeswehr war in den Vorgang eingeschaltet. Damals an der Entscheidung beteiligte Personen bestätigen den Vorgang, die Bundesregierung und der BND erklärten auf Anfrage zu "nachrichtendienstlichen Angelegenheiten grundsätzlich nur den geheim tagenden Gremien des Deutschen Bundestages" Auskunft zu geben. "Nowitschok" gilt als eine der tödlichsten je entwickelten C-Waffen, ihr Einsatz gegen den russischen Überläufer Sergej Skripal und seine Tochter im März diesen Jahres in Salisbury führte zu einer diplomatischen Krise zwischen Moskau und dem Westen.
Die damalige Operation, die nach Angaben von Beteiligten in der ersten Hälfte der neunziger Jahre begann, war innerhalb der Bundesregierung umstritten. Der BND führte bereits seit einiger Zeit einen russischen Wissenschaftler als Quelle, der angeboten hatte, das bis dahin sorgsam gehütete militärische Geheimnis einer neuen Klasse von chemischen Kampfstoffen gegen die Zusicherung eines sicheren Aufenthaltsstatus für sich und seine Familie zu verraten. Der spätere Überläufer bot sogar an, eine Probe nach Deutschland zu bringen. All dies führte zu komplizierten politischen und juristischen Diskussionen innerhalb der Bundesregierung. 1990 waren auf Druck von Bundeskanzler Helmut Kohl die in Westdeutschland gelagerten amerikanischen Chemiewaffen abtransportiert worden, die Vereinbarungen über eine weltweite Ächtung der Kampfgase waren weit vorangeschritten. Zudem hatte sich Deutschland bereits 1954 in den sogenannten Pariser Verträgen verpflichtet, keine Massenvernichtungswaffen herzustellen. "Wir wollten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als würden wir uns selbst für solche Chemiewaffen interessieren", sagt eine mit den damaligen Diskussionen vertraute Person.
Mit Wissen von Kanzleramt und Bundesverteidigungsministerium wurde die Probe deshalb in einem Labor in Schweden analysiert, nur die Formel wurde an den BND und das Verteidigungsministerium übermittelt. Was aus der Probe wurde, ist unklar, die schwedische Regierung erklärte auf Anfrage, sie könne den Vorgang in der Kürze der Zeit nicht aufklären. Auf Weisung von Kohl unterrichtete der BND einige seiner engsten Partner, darunter amerikanische und britische Geheimdienste. Später wurde eine Arbeitsgruppe aus sechs westlichen Geheimdiensten und dem BND eingesetzt, sie trug alle Erkenntnisse zu "Nowitschok" zusammen. In einigen NATO-Ländern soll es auch zu der Produktion von winzigen Mengen des Giftes gekommen sein, um eigene Schutzausrüstung, Messgeräte und mögliche Gegenmittel zu testen. Um das gute Verhältnis zum damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin nicht zu belasten, entschied sich die Bundesregierung, die Existenz von "Nowitschok" nicht öffentlich zu machen. Der letzte sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow hatte schon 1987 versichert, dass die Produktion von C-Waffen eingestellt werde.
In der Bundesregierung war man unsicher, ob der militärische Apparat ohne Wissen der politischen Führung weiter an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen arbeitete. Im Auftrag Kohls sprach ein Emissär den Vorgang allerdings bei einem Treffen in Moskau an und erklärte, man wisse von den heimlich fortgesetzten Kampfstoff-Entwicklungen. Der Überläufer kam später auf Umwegen nach Deutschland und lebte zumindest zeitweilig unter dem Schutz der Bundeswehr. In der heutigen Bundesregierung laufen inzwischen Bemühungen, den damals unter höchster Geheimhaltung gelaufenen Vorgang zu rekonstruieren.
Ehemaliger BND-Präsident: "Nowitschok"-Angebot denkbar
Der ehemalige BND-Präsident Hans-Georg Wieck hält es für denkbar, dass eine russische Kontaktperson dem Bundesnachrichtendienst in den 1990er-Jahren das Nervengift "Nowitschok" angeboten hat. "Ich halte ein solches Angebot nicht für ausgeschlossen", sagte er der "Mitteldeutschen Zeitung".
"Denn das Know how und die Proliferation von Chemiewaffen war damals ein großes Thema, insbesondere mit Blick auf Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Sowjetunion war eine Weltmacht und hatte Waffen auf allen Gebieten. Und mit dem Ende des Kalten Krieges hatten viele Fachleute keine Berufsperspektive mehr." Wieck, der 1990 aus dem Amt schied, betonte aber, dass er zu dem jüngsten einschlägigen Bericht nichts sagen könne und darüber auch nicht spekulieren wolle. Hansjörg Geiger, der Mitte der 1990er Jahre ebenfalls, aber nur für kurze Zeit BND-Präsident war, erklärte der "Mitteldeutschen Zeitung": "Ich kann gar nichts dazu sagen."
Quelle: DIE ZEIT (ots) / dts Nachrichtenagentur