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Nahost-Experte Dr. Muriel Asseburg zum Krieg im Gaza-Streifen

Archivmeldung vom 17.01.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 17.01.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Aufrufe zur Mäßigung verhallen im Gazastreifen ungehört. Israel verschärft seine Offensive. Die Hamas sendet widersprüchliche Signale über ihre Verhandlungsbereitschaft aus. Welche Chancen gibt es für eine Befriedung des Konfliktes?

Dr. Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem größten Think Tank in Europa: "Ohne eine politische Einbindung der Hamas läuft nichts."

Wird Israel im Gazastreifen gelingen, was im Libanon scheiterte: Kann der Feldzug die Hamas schwächen, nachdem die Hisbollah 2006 eher noch an Renommee gewann?

Dr. Muriel Asseburg: Politisch wird die Hamas wohl nicht geschwächt aus dem Krieg hervorgehen. Aber es wird Israel gelingen, die Infrastruktur der Hamas zu schwächen -- das betrifft allerdings nicht nur die militärische, sondern auch die zivile Infrastruktur. Die Frage ist allerdings, ob das wirklich als Erfolg zu werten ist oder ob es nicht vielmehr eine Gefahr darstellt. Nämlich die Gefahr, dass mit den Angriffen auf die Infrastruktur auch die Ordnungs- und Regierungsfähigkeit im Gazastreifen zerstört wird -- wie dies auch schon zu Beginn der zweiten Intifada in den gesamten palästinensischen Gebieten der Fall war. Dies kann letztlich zu einer Situation führen, in der es im Gazastreifen keine Führung mehr gibt, die einen Waffenstillstand aushandeln und auch durchsetzen kann.

Erschafft Israel mit seinen Schlägen auch gegen Zivilisten die nächste Generation Terroristen ?

Dr. Asseburg: Es liegt auf der Hand, dass die jetzige Militäraktion nicht 1,5 Millionen Israel-Freunde im Gazastreifen hinterlassen wird, sondern eine zutiefst traumatisierte, desillusionierte und zum Teil sicherlich auch radikalisierte Bevölkerung. Gruppierungen, die radikaler sind als die Hamas, werden erheblichen Zulauf bekommen. Mit diesen Gruppen wird man nicht verhandeln können, weil sie keine nationalen Interessen verfolgen. Das kann nicht in Israels Sinn sein.

Hamas ist nicht nur eine Terrororganisation, sondern auch eine soziale Bewegung -- für deren Zulauf Israel selbst sorgte. Wie kann dies gestoppt werden?

Dr. Asseburg: Vor allem ist die Hamas auch eine politische Organisation, die bei den letzten Parlamentswahlen haushoch gewonnen hat. Es wird kein Weg daran vorbeigehen, die Hamas als politische Kraft einzubinden. Die Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas ist letztlich die Voraussetzung für Fortschritte -- in den Palästinensergebieten und bei einer Konfliktregelung mit Israel. Nur wenn es einen Ausgleich gibt, werden Neuwahlen stattfinden können. Nur so kann es wieder eine handlungsfähige Regierung geben. Nur so kann der palästinensische Präsident die Unterstützung für Verhandlungen haben. Nur so können Regelungen über die Öffnung der Grenzen des Gazastreifens gefunden werden. Und die sind notwendig, um Handel und wirtschaftliche Entwicklung überhaupt zu ermöglichen. Auf Dauer kann ja nicht die internationale Gemeinschaft in den Palästinensergebieten Almosen verteilen, damit die Bevölkerung überlebt.

Muss auch der Westen mit der Hamas verhandeln, um nicht doppelzüngig zu wirken? Immerhin hat die Hamas Wahlen gewonnen...

Dr. Asseburg: Momentan geht es nicht primär darum, dass der Westen offizielle Gespräche mit der Hamas führt. Es geht eher darum, dass er klarmacht, eine innerpalästinensische Aussöhnung nicht länger zu blockieren -- wie noch nach dem Wahlsieg der Hamas. So sollte die EU vor allem gegenüber der Fatah und dem paläs"tinensischen Präsidenten ihre Bereitschaft signalisieren, mit einer Regierung der nationalen Einheit wieder zusammenzuarbeiten, wenn sie denn gebildet wird. Die Illusion, die Hamas würde sich in Luft auflösen, darf nicht genährt werden, etwa durch Gedankenspiele, nach der Gaza-Invasion eine Fatah-Herrschaft im Gazastreifen zu installieren.

Welche Ziele verfolgt die Hamas mit den Raketenangriffen auf Israel?

Dr. Asseburg: In erster Linie wollte die Hamas den Teil des Waffenstillstandsabkommens einfordern, der im Juni 2008 zugesagt, aber bisher nicht umgesetzt worden war. Also das Ende der nahezu vollständigen Blockade des Gazastreifens durch die Öffnung der Grenzübergänge nach Israel und Ägypten.

Demnach agiert die Hamas nicht als verlängerter Arm Teherans?

Dr. Asseburg: Sicherlich verfolgt der Iran auch eigene Inte"ressen, indem er Gruppierungen wie die Hamas unterstützt. Doch die Hamasführung kalkuliert sehr genau, welches ihre eigenen Interessen sind -- und die sind nicht deckungsgleich mit denen Teherans. Überschneidungen gibt es unter anderem bezüglich dessen, dass die Hamas sich im Gazastreifen weiter konsolidieren will und den Preis für eine Aussöhnung mit der Fatah und einen Waffenstillstand mit Israel in die Höhe zu treiben, also hierbei ihre Hauptforderungen durchzusetzen.

Wird Israel den Gazastreifen erneut besetzen müssen, um vor Raketenangriffen sicher zu sein?

Dr. Asseburg: Ich denke, daran hat Israel dauerhaft kein Interesse. Vielmehr will Israel die internationale Gemeinschaft dazu bewegen, Verantwortung für den Gazastreifen zu übernehmen, um sich selbst dieser entledigen zu können.

Keine Verantwortung wollen die arabischen Staaten übernehmen. Zeigt dies, wie isoliert die Hamas ist?

Dr. Asseburg: Einerseits ja, andererseits zeigt es auch, wie ängstlich die arabischen Regime darauf achten, dass weder Hamas noch Hisbollah in ihren Bevölkerungen Vorbildstatus gewinnen können. Denn dies könnte den islamistischen Oppositionsparteien in diesen Ländern zugute kommen. Zudem sind viele Regime in der Region über den wachsenden Einfluss des Iran besorgt.

Barack Obama hat angekündigt, sich unmittelbar nach seiner Amtsübernahme des Nahost-Konfliktes annehmen zu wollen. Bekommt dieser endlich auch in der US-Politik gebührenden Stellenwert eingeräumt?

Dr. Asseburg: Ich wäre sehr zurückhaltend, hier allzu große Hoffnungen zu wecken. Hält man sich die jüngsten Resolutionen sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus vor Augen, die ganz eindeutig zugunsten Israels Partei ergreifen und Hamas die alleinige Verantwortung für den Krieg zuschieben, wird deutlich, dass die neue Administration keine allzu großen Spielräume hat, einen völlig neuen Kurs einzuschlagen. Ich bezweifle zudem, dass die Obama-Administration das tun wird, was notwendig ist, um tatsächlich substantielle Fortschritte im Friedensprozess zu erzielen: nämlich alle Konfliktparteien zu versammeln, an die Hand zu nehmen und aktiv zu einem Verhandlungsergebnis zu führen. Dies ginge nur, wenn Washington eine Blaupause für den Endstatus vorlegen und konsequent Druck in Richtung Konfliktregelung ausüben würde.

Ein neuer Kurs soll auch gegenüber Iran eingeschlagen werden. Endet die Zeit, in der die Konflikte der Region isoliert betrachtet wurden?

Dr. Asseburg: Das steht zu hoffen. Allerdings befürchte ich, dass wir keine Fortschritte in Richtung Frieden sehen werden, solange Washington nicht die arabischen Staaten und Israel gleichermaßen zu einem Ausgleich drängt.

Bedarf Washington der Äquidistanz zu den Gegnern?

Dr. Asseburg: Nein, das ist nicht nötig, aber es müssen die legitimen Interessen aller Konfliktparteien einbezogen werden. Vorrangig geht es doch darum, die Prinzipien für eine Zwei-Staaten-Lösung, die alle bereits auf dem Tisch liegen und von den Konfliktparteien weitgehend verhandelt worden sind, in eine konkrete Regelung umzusetzen. Zum anderen bedarf es eines Politikwechsels in Bezug auf Hamas und Syrien. Ziel Washingtons darf es nicht länger sein, die Kluft zwischen Fatah und Hamas zu vertiefen und Hamas und Syrien als Teil des Problems statt als Teil der Lösung zu behandeln.

Welche Chancen bestehen, Syrien in eine Nahost-Friedensarchitektur einzubinden?

Dr. Asseburg: Die Chancen sind sehr gut, weil Damaskus großes Interesse hat, die bislang indirekten Gespräche mit Israel auf eine neue Ebene zu heben. Es wäre für Syrien ein großer Erfolg, nach Verhandlungen unter US-Vermittlung die Golanhöhen zurückzugewinnen. Durch einen solchen Friedensprozess könnte sich Syrien zudem aus der Isolierung durch den Westen befreien.

Die Frequenz der Waffengänge in der Region steigt. Droht ein großer Showdown zwischen Israel und Iran?

Dr. Asseburg: Ich sehe trotz der jüngsten Meldungen über einen unterbundenen Präventivschlag Israels gegen iranische Atomanlagen nicht, wie eine der beiden Seiten annehmen könnte, eine militärische Auseinandersetzung könnte die Kräfteverhältnisse wirklich dauerhaft klären. Die Gefahr allerdings besteht weiter, dass durch kleinere Auseinandersetzungen oder von den Regierungen nicht kontrollierte Gruppierungen eine Eskalation ausgelöst wurde -- wie es etwa beim Libanonkrieg 2006 der Fall war. Die Vielzahl ungelöster, offener Konflikte, das massive Waffenarsenal im Nahen Osten sowie Machthaber, die Krieg als Mittel der Politik begreifen, lassen einem zögern, die Hand dafür ins Feuer zu legen, dass es keinen großen Krieg gibt.

Kennt der Nahe Osten keine Kriegsmüdigkeit?

Dr. Asseburg: In großen Teilen der Bevölkerung ist die Kriegsmüdigkeit sehr groß. Das erklärt zum Beispiel die Zurückhaltung der Hisbollah in dem aktuellen Konflikt. Denn in der libanesischen Bevölkerung hätte sie derzeit keinen Rückhalt für einen Waffengang. Leider hat sich bei vielen Paläs"tinensern die Einsicht durchgesetzt, dass es keine realistische Option für einen friedlichen Ausgleich mit Israel gibt. Nach ihren Erfahrungen haben Verhandlungen sie ihren Zielen nicht nähergebracht. Und in Israel steht die Bevölkerung nahezu geschlossen hinter dem Waffengang.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg

 

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