Prof. Dr. Carlo Masala: Ziele in Afghanistan niedriger hängen
Archivmeldung vom 04.12.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBarack Obama hat das "endgame" eröffnet. 30000 zusätzliche eigene Soldaten und rund 10000 der Verbündeten sollen in einer 18-monatigen Schlacht Afghanistan stabilisieren. Berlin spielt auf Zeit. Dieses Zaudern lässt Deutschlands Einfluss in der NATO weiter schwinden, sagt der sicherheitspolitische Experte Prof. Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München lehrt.
Kann die Afghanistan-Mission noch ein Erfolg werden, nachdem Obama den Abzug in 18 Monaten angekündigt hat?
Prof. Carlo Masala: Das hängt davon ab, was man als Erfolg definiert. Folgt man in dieser Frage dem US-Präsidenten, der eine Regierung in Afghanistan anstrebt, die für Sicherheit im Innern wie nach Außen sorgen kann, ist Skepsis angebracht. Weniger wegen des fixen Abzugstermins als wegen der historischen Tatsache, dass ein Zentralstaat mit einem legitimen Gewaltmonopol in Afghanistan keine Tradition hat. Deshalb ist schwer vorstellbar, dass ein Großteil der Afghanen eine solche Regierung akzeptieren wird. Wenn eine solche Regierung also das Ziel ist, wird die Mission kein Erfolg. Hängt man das Ziel hingegen tiefer, etwa, dass von Afghanistan künftig weder für Nachbarn noch für den Westen eine Gefahr ausgeht, kann noch ein Erfolg erreicht werden. Zentrale Voraussetzung für beide Ziele ist aber, dass man Pakistan stabilisiert, indem die Nachbarregierung in Kabul ihre Territorien effektiv kontrolliert.
Ist dieses Ziel mit der 18-Monats-Befristung erreichbar?
Die Taliban könnten die 18 Monate einfach aussitzen... Prof. Masala: Einer derartigen, denkbaren Strategie will Obama entgegenwirken, indem er Teile der Taliban in die afghanischen Strukturen integriert. Die, die ihre Waffen niederlegen -- nach der damaligen Definition von Kurt Beck die "moderaten Taliban" -- sollen legitimer Teil der Herrschaftsstrukturen werden können. Können zugleich die paschtunischen Stammesführer mit viel Geld davon überzeugt werden, den radikalen Taliban keine Rückzugsgebiete mehr zu stellen, können letztere marginalisiert werden.
Ist eine Truppenaufstockung um 40000 Mann nicht zu schwachbrüstig, vergleicht man es mit der Mannschaftsstärke, mit der die Rote Armee eingerückt war?
Prof. Masala: Ja, auch wenn man es mit den 160000 Mann vergleicht, die zeitweise im Irak eingesetzt waren. Militärisch betrachtet, braucht man viel mehr Truppen. Politisch betrachtet, gibt es keine Chance, sie zu bekommen. Der ISAF-Oberkommandierende General McChrystal hatte 40000 Soldaten gefordert, um überhaupt eine Chance zu haben, die Taliban zurückzudrängen. Die Gefahr ist, dass diese Truppen sich auf die großen Städte konzentrieren und das Hinterland den Taliban überlassen. Das kann katastrophale Folgen haben, wie man in Vietnam gesehen hat. Zum Erfolg kann diese Taktik nur werden, wenn den Afghanen in den Bevölkerungszentren das Gefühl einer hundertprozentigen Sicherheit vermittelt wird. Bisher ist es so, dass die westlichen Truppen am Tag die Straßen kontrollieren und sich nachts in ihre Kasernen zurückziehen.
McChrystal will die Zivilbevölkerung vor den Taliban schützen, statt die Gotteskrieger zu verfolgen. Ist es machbar mit dieser Aufstockung light?
Prof. Masala: Der Strategiewechsel ist möglich, aber nur wenn die Regierung Karzai endlich als wirkliche Regierung handelt, die sich allen Afghanen verpflichtet fühlt und nicht nur den eigenen Pfründen. Ohne eine verantwortlich handelnde Regierung, steigt nach dem Abzug der westlichen Truppen wieder die Bürgerkriegsgefahr.
Sie vertreten die These vom Ende des politischen Westens. Bringt die von Obama angestrebte Lastenverteilung der NATO jetzt wieder einen Bedeutungszuwachs als Instrument der US-Strategie?
Prof. Masala: Das hängt entscheidend von zwei Faktoren ab. Kurzfristig von der Bereitschaft anderer NATO-Staaten, zusätzliche Truppen zu stellen. Hier herrscht bisher Zurückhaltung vor. Bei den Briten wächst die Kriegsmüdigkeit, die Franzosen haben klargemacht, dass von ihnen nichts kommen wird und die Deutschen warten bis zur Afghanistan-Konferenz im Januar ab. So wird der Charakter des Afghanistan-Krieges als eines amerikanischen Krieges verstärkt. Schon jetzt engagiert sich Washington in jedem Bereich am stärksten. Insofern wird auch der ISAF-Einsatz geprägt von den US-Vorstellungen. Im Hinblick auf die NATO als Allianz wird es entscheidend darauf ankommen, wie das neue strategische Konzept aussieht -- und ob die Europäer den Amerikanern in der Vorstellung folgen, dass die NATO eine global agierende Allianz sein soll. Danach sieht es derzeit aber nicht aus. Globale Einsätze sind sicherlich im US-Interesse, aber nur bedingt im europäischen. Bleibt diese Neuorientierung aus, wird die NATO als militärisches Instrument -- nicht als politisches -- weiter an Bedeutung verlieren.
Verspielt Berlin mit seinem Zeitspiel seinen ohnehin schwindenden Einfluss?
Prof. Masala: Ja, weil Deutschlands Abstieg in die zweite Garde der NATO-Staaten auf seine mangelnde Fähigkeit und seine mangelnde Bereitschaft zurückgeht, Truppen im Ausland einzusetzen. Was im Kalten Krieg noch Einfluss sicherte, die Größe der Armee und die Beiträge in die NATO-Kasse, hat an Stellenwert verloren. Deutschland hat hier ein strukturelles Problem, weil eine Parlamentsarmee nicht so schnell und effektiv in Marsch gesetzt werden kann wie etwa die Armee Frankreichs durch dessen mächtigen Präsidenten. Weil Berlin beim Afghanistan-Einsatz so oft als Bremser auftritt, schwindet sein Einfluss in der NATO.
Verheddert sich Berlin nach dem Kundus-Desaster weiter in Stückwerk statt eine große sicherheitspolitische Debatte zu führen?
Prof. Masala: In der Tat. Mit der Ausnahme der Phase nach den Anschlägen vom 11. September umgeht Deutschland diese Debatte sein 1990. Es wird nicht öffentlich diskutiert: Was sind unsere sicherheitspolitischen Prioritäten? Wo liegen unsere Grenzen? Dabei wäre das sowohl für die Bürger als auch für Verbündeten wichtig, um Berechenbarkeit zu erzielen. Falls die SPD als Oppositionspartei den Abzug aus Afghanistan zum Thema macht, wird sich die Regierung nicht trauen, offensiv eine sicherheitspolitische Debatte über das Kernproblem hinter dem Kundus-Zwischenfall zu führen: Das Kriegsvölkerrecht, von dem manche Experten sagen, es könne nicht mehr gelten, weil es die Wirklichkeit asymmetrischer Konflikte nicht erfasst. Aus meiner Sicht steckte Oberst Klein in Kundus im Dilemma. Hätte er nichts gemacht, und die Tanklastzüge wären zu Anschlägen benutzt worden, wäre er zur Rechenschaft gezogen worden. Jetzt hat er was gemacht -- anscheinend etwas Falsches -- und wird deshalb zur Rechenschaft gezogen. Hier fehlt es an der juristischen Grundlage. Es kann nicht sein, dass jeder Soldat, der in Afghanistan eine Entscheidung fällt, daran denken muss, ob ihn die Staatsanwaltschaft in Dresden deswegen anklagt oder nicht. Das ist untragbar für die Soldaten, wird aber nicht debattiert.
Belegt das Kundus-Desaster die Fragwürdigkeit einer Aufstandsbekämpfung mit relativ wenig Truppen?
Wer den Boden nicht kontrolliert, muss eher zu Luftschlägen greifen? Prof. Masala: Das ist generell das Problem der Kriegsführung im 21. Jahrhundert. Es wird zu sehr auf Luftangriffe vertraut, obwohl trotz aller Präzisionswaffen Zivilisten nicht umfassend geschont werden können. Afghanistan zeigt aber, dass man einen Gegner, der aus der Deckung der Zivilbevölkerung heraus Anschläge begeht, nicht mit Luftschlägen niederringen kann. Da braucht man mehr Bodentruppen und mehr Special forces.
Im deutschen Wahlkampf wurde ein Abzug 2013 thematisiert. Bröckelt die ISAF-Mission schon früher ab?
Prof. Masala: Die Diskussion läuft bereits auf eine Exit-Strategie hinaus. Die Regierungen wollen Kriterien haben, die sie abarbeiten können, um dann sagen zu können: Wir haben unsere Mission erfüllt. Das ist auch richtig. Denn wenn man der afghanischen Bevölkerung nicht sagt, wann man seine Truppen abzieht, wird man erstens als Besatzer gesehen. Zweitens raubt man Bevölkerung und Regierung die Neigung, selbst Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, die Mehrheit der Afghanen ist gegen eine Rückkehr der Taliban. Wissen sie aber um den nahenden Abzug des Westens, wird ihnen klar, dass sie selbst etwas unternehmen müssen, um die Taliban niederzuhalten.
Obwohl die Vernebelungstaktik im Fall Kundus auf Berlin zurückschlug, bleibt es dabei. Wann redet Berlin über Krieg?
Prof. Masala: Ich stimme Joschka Fischer zu, der nach seiner Zeit als Außenminister gesagt hat: "Was ich in Afghanistan sehe, ist ein Krieg, aber ich kann nachvollziehen, warum die Regierung diesen Begriff meidet." Würde Berlin das Wort Krieg benutzen, käme es in Konflikt mit dem UN-Mandat, das keinen Krieg vorsieht, sondern als Aufbauoperation definiert ist. Zudem müsste der Bundestag den Verteidigungsfall feststellen, was er wohl kaum mehrheitlich tun würde. Sollte er es aber dennoch tun, müsste die Kanzlerin laut Verfassung das Kommando übernehmen. Einem Soldaten, der am Hindukusch kämpft, zu erzählen, dass er nur eine Aufbauoperation durchführt, hat etwas Absurdes. Deshalb war der Schwenk durch den neuen Verteidigungsminister zu Guttenberg richtig, Verständnis dafür zu äußern, wenn andere von Krieg reden.
Was bleibt von den Erfolgen der Mission nach dem absehbaren Abzug?
Prof. Masala: Folgende Ziele wären erreichbar: kein neuer afghanischer Bürgerkrieg, keine Möglichkeit für Terroristen, sich dort festzusetzen und keine Chance für die Nachbarn, Afghanistan als Spielball zu benutzen. Vorstellungen, Afghanistan demokratisieren zu können, waren von Anfang an fehlgeleitet. Davon muss man sich endgültig verabschieden. Es kann nur darum gehen, Stabilität zu hinterlassen, nicht zuletzt, weil das Land von vier -- möglicherweise mit dem Iran bald von fünf -- Atommächten umgeben ist.
Falls die Mission Stabilität misslingt -- wird sich der Westen nach einer derartigen Niederlage noch jemals zu einer friedenserzwingenden Mission aufraffen können?
Prof. Masala: Friedenserzwingend ja, aber nicht mehr für eine Wiederaufbaumission. Ich denke, die Zeiten sind vorbei.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Joachim Zießler)