Scholl-Latour: "Zukunft der islamischen Staaten ungewiss"
Archivmeldung vom 01.02.2011
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 01.02.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittPeter Scholl-Latour, Publizist und Nahost-Experte, betrachtet die aktuellen Entwicklungen in den arabischen Ländern als epochal. "Zum ersten Mal ist in Tunesien ein Umbruch durch Straßenaufstände geglückt", sagte er in der PHOENIX-Sendung UNTER DEN LINDEN. Dabei bewertete er die Rolle der elektronischen Medien als unerwartet wichtig. Jedoch seien die weiteren Entwicklungen nicht abzusehen.
"Die Zukunft ist ungewiss. Die Frage ist: In welche Richtung gehen die islamischen Staaten nach dem Umbruch?" Weiterhin kritisierte Scholl-Latour die Haltung des Westens: "Mit der islamischen Welt wird nicht gesprochen." Er warnte davor, die aktuellen Bewegungen zu sehr zu unterstützen, "sonst geraten sie in den Verdacht, Instrument des Westens zu sein."
Der Publizist und Islamwissenschaftler Michael Lüders bezeichnet die Aufstände in den arabischen Ländern als "historische Zäsur, vergleichbar mit dem Mauerfall". Die Ära der "arabischen Herrscher, die mit Hilfe ihrer Clans systematisch die Staatskasse geplündert haben", sei vorbei. Bei PHOENIX forderte der Publizist ein "differenzierteres Denken" der westlichen Politiker. "Wir sollten uns hüten, die Dinge in Schwarz-Weiß zu sehen - entweder wir haben einen pro-westlichen Diktator wie Mubarak oder es droht eine islamische Republik" betonte Lüders. Der Islam sei nicht grundsätzlich bedrohlich. Der Publizist bezeichnete die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten als positiv. "Politische Trümmerfelder mit pseudo-demokratischer Fassade" wie der Irak und Afghanistan seien keine Alternative. Rückschläge hielte er für möglich und wahrscheinlich, er sei aber optimistisch, da "die junge Bevölkerung hinter dem Umbruch steht". Vom Westen erwarte Lüders in Zukunft eine positivere Sicht des Islams und forderte genau wie Scholl-Latour den Dialog der westlichen Politik mit den arabischen Ländern. "Man kann Demokratie aktiv fördern, ohne fragwürdige Kriege zu unterstützen", so Lüders.
Polenz rät zu vorgezogenen Präsidentenwahlen in Ägypten
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Ruprecht Polenz, tritt angesichts der Unruhen in Ägypten dafür ein, die dortigen Präsidentenwahlen vorzuziehen. "Diese Anregung muss erlaubt sein", sagte der CDU-Politiker der "Rheinischen Post". Zwar müssten erst die Bedingungen für einen fairen Wahlkampf geschaffen werden. Es biete sich jedoch an, dass Ägypten nicht erst im September, sondern schon "innerhalb der nächsten sechs Monate" einen Präsidenten wählt. Aus Sicht von Polenz sollte zudem eine Wiederholung der umstrittenen Parlamentswahlen in Betracht gezogen werden. "Ein Grund für den aktuellen Aufruhr besteht doch darin, dass die Ergebnisse dieser Wahlen keine Legitimität entfalten konnten", erklärte Polenz.
Israelischer Ex-Botschafter Primor: Nahost-Friedensprozeß durch Ägypten nicht bedroht
Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, sieht durch die Proteste in Ägypten keine große Bedrohung des Friedensprozesses im Nahen Osten. "In allen Demonstrationen ist nie gegen Israel skandiert worden", sagte Primor dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Tatsächlich hätten innenpolitische Probleme die Demonstranten auf die Straße getrieben. "Wirtschaft, Arbeitslosigkeit, Armut, Diktatur, Korruption. Aber nie Israel", sagte Primor. Natürlich sei die Gefahr groß, dass Islamisten die Macht übernehmen. Aber entgegen der herrschenden Meinung in Israel, man bräuchte Ägyptens Staatspräsidenten Hosni Mubarak und sein Establishment für den Friedensprozess, meint Primor: "Weder Sadat noch Mubarak waren jemals in den Feind verliebt. Wenn sie mit Israel kooperiert und Frieden geschlossen haben, dann aus reinem Eigeninteresse". Umgekehrt glaubt der frühere Botschafter, dass selbst eine islamistische Regierung das gleiche Interesse verfolgen würde wie die aktuelle: Frieden mit Israel. Die israelischen Regierung warnt der Ex-Diplomat, sich in die innerägyptischen Vorgänge einzumischen: "Das hätte nur negative Auswirkungen. Israel wird immer noch als Feind betrachtet".
Quelle: PHOENIX / Rheinische Post / Kölner Stadt-Anzeiger