Der „Friedhof der Kaiserreiche“ mit Grabsteinen der Illusionen
Archivmeldung vom 03.04.2013
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Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt„Die Nato-Truppe wiederholt im Laufe ihrer aktuellen Mission in Afghanistan die Fehler der sowjetischen Staatsführung.“ Diese Behauptung ist im Bericht des britischen Verteidigungsministeriums enthalten, der in diesen Tagen veröffentlicht wurde und über den die Rundfunkanstalt BBC informiert hat. Insbesondere wird im Dokument betont, dass der Zweck jeder Kriegskampagne der Versuch war, Afghanistan eine ihm fremde Ideologie aufzuzwingen: im Falle der sowjetischen Präsenz war es die kommunistische, in Falle des Atlantischen Bündnisses die westliche. Heißt es im Beitrag von Oleg Sewergin bei Radio "Stimme Russlands".
Oleg Sewergin berichtet weiter: "Die Verfasser des Berichts gelangen zu unerfreulichen Schlussfolgerungen. Beide Kampagnen, schreiben sie zusammenfassend, haben sich für die Weltgemeinschaft als Scheitern erwiesen. Ihre Teilnehmer konnten weder dem Feind eine Niederlage beibringen, noch die Staatsgrenzen unter seine Kontrolle stellen oder den Schutz der Zivilisten gewährleisten. Im Bericht werden Zweifel am Erfolg der ihrem Abschluss entgegengehenden ISAF-Mission geäußert. Heute gibt es keine Garantien dafür, dass die aktuelle afghanische Staatsführung die Macht behalten wird, behaupten die Verfasser des Dokuments. Allerdings halten sie es nicht für möglich, die Ergebnisse einer noch nicht abgeschlossenen Kriegskampagne zu bewerten.
Auffallend an dem Bericht ist in erster Linie, dass gerade Großbritannien der Hauptverbündete der USA bei dem Beginn der Operation „Enduring Freedom“ („Andauernde Freiheit“) war. Die Ziele der Militäroperation waren bekanntlich die Stürzung des Taliban-Regimes, die Befreiung des Landes von ihrem Einfluss, die Festnahme der Al-Qaida-Terroristen und die Einleitung eines Prozesses gegen sie. Zweitens ist eine der zentralen Schlussfolgerungen des Berichts von Interesse. Sie lautet, dass der Misserfolg beider Kampagnen, der sowjetischen wie der heutigen, laut Analytikern eine Voraussetzung für die Einbuße der internationalen Führungsrolle durch die beiden Großmächte Sowjetunion und dann USA bildete. Heute wäre es wohl verfrüht, diese Schlussfolgerung auf den Hauptauslöser des Krieges gegen den internationalen Terrorismus anzuwenden. Jedoch darf man bestimmte Kapitel der Vergangenheit nicht vergessen. Vor allem jetzt, wenn die Bilanz der afghanischen Mission gezogen wird.
In der letzten Zeit wiederholen Analytiker immer häufiger die These, während des ganzen Bestehens von Afghanistan sei es keinem gelungen, das Volk dieses Landes sich zu unterwerfen. In diesem Zusammenhang fällt wiederum immer häufiger der Ausdruck „Afghanistan ist ein Friedhof der Kaiserreiche“. Sicher haftet diesen Behauptungen etwas Legendäres an. Afghanistan, dieser öde, gebirgige und wenig erschlossene Raum, wird außerdem mit einem „Haus am Wege“ verglichen. Hier verlief einst die Große Seidenstraße, so ist es kein Zufall, wenn das Land jahrhundertelang die großen Kaiserreiche des Altertums und der späteren Jahrhunderte, um mit dem Ausdruck der Historiker zu reden, wie ein Magnet anzog. Verständlich ist auch, dass die tapferen, aber zersplitterten Stämme, die diesen Raum bewohnten, nicht immer in der Lage waren, den gut bewaffneten und organisierten Heeren der Eroberer Widerstand zu leisten.
Eine Zeitlang wurde das Land von Alexander dem Großen beherrscht, der sogar begann, dort Städte zu bauen, und, wie er sich ausdrückte, Ost und West mit einander zu vermählen trachete. Er hatte vor, hier eine Gesellschaft mit einer gewissermaßen „universalen“ Kultur und Religion aufzubauen. Aber seine Macht konnte er nur durch ununterbrochene erbitterte Kämpfe gegen die braven und furchtlosen afghanischen Krieger aufrecht erhalten. So stürzte nach dem Tode des großen Eroberers der von ihm aufgeführte „Bau“, der sich auf die Spitzen der Schwerter und Speere gestützt hatte, schnell ein. Einen zeitweiligen Erfolg erzielten hier später Nachkommen des Dschingis Khan und Timur. Dabei erwiesen sich die Ergebnisse ihrer Siege ebenfalls als vorübergehend. Am erstaunlichsten ist wohl aber, dass die härtesten Niederlagen hier, bereits im 19. Jh., das Britische Weltreich einstecken musste, das zweimal versuchte, seine Herrschaft am Hindukusch zu behaupten. In einer von den blutigen Schlachten fand das Leben von 13.000 Briten ein tragisches Ende, und der deutsche Dichter und Humanist Theodor Fontane widmete diesem Ereignis sogar die Ballade „Das Trauerspiel von Afghanistan“.
Schon als das 20. Jh. zur Neige ging, kam die ehemalige Sowjetunion an den Hindukusch. 10Jahre lang versuchte sie, in Kabul ein sozialismusfreundliches Regime zu errichten und zu etablieren. Allerdings muss man der Gerechtigkeit halber zugeben, dass es auf inständiges Bitten der afghanischen Staatsführung geschah. Aus offiziellen Quellen weiß man, dass zu Beginn des Jahres 1979 über 20 solche Appelle erfolgt waren. Gegen Ende desselben Jahres trafen weitere 7 offizielle Bitten nach der Truppeneinführung ein. Im Endeffekt entschloss sich Moskau doch zu diesem Schritt. Zu berücksichtigen ist auch, dass es Sowjetrussland war, das 1919 als erstes Land die Unabhängigkeit Afghanistans anerkannt hatte und an dem Ausbau seiner freundschaftlichen Beziehungen zu diesem Land ständig Interesse zeigte.
Wie dem auch sei, das sowjetische Experiment scheiterte. 10 Jahre nach der Entsendung ihrer Truppen an den Hindukusch zog sie die UdSSR zurück. Sie tat es in der Hoffnung, dass die Opfer nicht vergeblich waren. Daran erinnert sich im Gespräch mit der Stimme Russlands Reinhard Erös, seit jeher ein Afghanistan-Experte. Früher war er Oberarzt bei der Bundeswehr, nach der Demission gründete er aber gemeinsam mit seiner Frau Anette die private karitative Organisation Kinderhilfe Afghanistan und ist in diesem Lande kein zeitweiliger Gast, sondern ein realer Teilnehmer seines Wiederaufbaus:
Ich habe Afghanistan schon vor 25 Jahren kennengelernt. Und ich erinnere mich, was damals beim Abzug der Sowjetischen Armee in den Zeitungen der damaligen Sowjetunion, oder auch in den Zeitungen der damals existierenden DDR zum Abzug geschrieben worden ist. Die ruhmreiche Sowjetarmee kann sich jetzt zurückziehen aus Afghanistan. Sie hat ihre sozialistische Bruderpflicht erfüllt. Afghanistan ist ein stabiles Land, es hat einen stabilen Staatspräsidenten. Wir hinterlassen eine starke afghanische Armee. Wir können also befriedigt und glücklich aus Afghanistan abziehen.“
Und sie wissen auch, dass das Gegenteil der Fall war. Bekanntlich war das Gegenteil der Fall.
SPRECHER: Dr. Erös hat sicher recht in dem Sinne, dass es der Sowjetunion nicht gelungen ist, ihre Ziele in Afghanistan zu erreichen. Aber wiederum der Gerechtigkeit halber muss man hinzufügen, dass trotz aller Grausamkeiten jenes Kriegs sowjetische Experten und Bauleute im Lande nach wie vor arbeiteten. Laut dem ehemaligen Befehlshaber der 40. Armee General Boris Gromow, der heute Mitglied des Föderationsrates ist, wurden in Afghanistan zwischen 1980 und 1988 mit Hilfe der Sowjetunion 65 große soziale und wirtschaftliche Objekte errichtet, insbesondere Industriebetriebe, Wasserkraftwerke, Bewässerungsanlagen, Bildungseinrichtungen, Straßen und Brücken. Geologen entdeckten mehrere nutzbare Lagerstätten. Dagegen lag es den USA und dann auch ihren Nato-Partnern laut Kriegsexperten von Anfang an vor allem an der militärischen Komponente der afghanischen Mission.
Also, um auf den oben erwähnten Bericht des britischen Verteidigungsministeriums über die Fehler der ehemaligen UdSSR in Afghanistan zurückzukommen, die von den Mitgliedern der jetzigen Koalition mit den USA an der Spitze wiederholt wurden: Man muss trotzdem zugeben, dass der von dem Weißen Haus vor 12. Jahren initiierte „Krieg gegen den Terrorismus“ kaum als eine genaue Entsprechung dessen gelten kann, was die ehemalige Sowjetunion am Hindukusch erreicht hat und was ihr dort misslungen ist. Hinsichtlich der Versuche, dort das Leben anders zu gestalten, ob nach dem sowjetischen oder westlichen Vorbild, wiederholt sich der Hauptfehler zwar wirklich aufs Genaueste. Aber die Meinungen der Experten bezüglich der übrigen, insbesondere rechtlichen, Aspekte der Operation „Enduring Freedom“ gehen auseinander.
Bekanntlich war der Anlass für die amerikanische Invasion in Afghanistan die Weigerung der damals regierenden Taliban, den „Terroristen Nummer 1“ Osama bin Laden an die USA auszuliefern, dem die Organisation der Terrorangriffe auf die Zwillingstürme des Welthandelszentrums in New York und der Überfall auf das Pentagon-Gebäude bei Washington am 11. September 2001 vorgeworfen wurde. Diese Terroranschläge wurden einer Militäraggression gegen die USA gleichgesetzt, was es dem Weißen Haus erlaubte, erstmals in der Geschichte den Artikel 5 des Nordatlantikvertrags über kollektive Sicherheit anzuwenden. Aber nicht alle Völkerrechtsexperten halten diese Entscheidung für berechtigt. Beispielsweise meint der Rechtsprofessor Gregor Schirmer aus Berlin, den die deutsche „Junge Welt“ zitiert, sie wäre nur legitim gewesen, falls Afghanistan als Staat den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hätte. Auch hatte Kabul selbstverständlich gar nicht gebeten, amerikanische Truppen an den Hindukusch zu entsenden.
Und noch eine Nuance: Im Mai 2011, nach der Beseitigung von Osama bin Laden durch die amerikanischen „Kommandos“ hat die Webseite von „Euronews“ berichtet, dass der Hauptterrorist des Planeten eigentlich eine Kreatur der CIA gewesen war. Die amerikanischen Geheimdienste hatten ihn als einen der bedeutendsten Organisatoren des Kampfes gegen die sowjetischen Truppen eingesetzt. Nachdem sie sich zurückgezogen hatten, richteten der Anführer der Al-Qaida und seine Gehilfen auf der Suche nach Objekten für den Terror ihre Waffen gegen ihre ehemaligen Dienstherren. So eine Ironie des Schicksals am Hindukusch.
In anderthalb Jahren verlässt die größte Supermacht des Planeten mit dem „Ehrengeleit“ ihrer Verbündeten den Hindukusch. Wird er für sie zum „Friedhof“? Höchstwahrscheinlich nicht. Dagegen steht fest, dass dort die neuen Illusionen hinsichtlich einer gewaltsamen Umgestaltung der Lebensweise in Afghanistan nach eigenen Vorstellungen begraben werden, in deren Grabsteine Namen beginnend mit Alexander dem Großen gemeißelt sind. Zum Abschluss möchte ich das Fazit aus dem fraglichen Erfolg der Mission am Hindukusch anführen, das von dem Vizepräsidenten der Akademie der geopolitischen Probleme Wladimir Anochin gezogen wurde:
„Afghanistan ist kein Land, dass es zu besiegen gilt“, so Anochin. „Mit Afghanistan soll man handeln. Weiter nichts.“
Das trifft allerdings wohl nicht nur auf Afghanistan zu."
Quelle: Text Oleg Sewergin - „Stimme Russlands"