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"Islam ist eine kapitalistische Religion"

Archivmeldung vom 14.11.2006

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 14.11.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Nach zwei Gastprofessoren, die sich aus jüdischer Perspektive mit islamischer Geschichte befasst haben, vergleicht der aktuelle Fellow in München Zivilisationen im allgemeinen und Wirtschaftseinrichtungen im besonderen im Lauf der Jahrhunderte. "Man hört viel über den "clash of civilizations", sagt Murat Cizakca. "Ich sehe unsere Welt eher als Synthese oder sogar Symbiose christlicher und islamischer Kultur."

Cizakca wurde 1946 im türkischen Bursa geboren und studierte Wirtschaft mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte in Leicester und an der University of Pennsylvania. Seit 2003 ist er Professor für Volkswirtschaft und vergleichende Wirtschaftsgeschichte an der Bahcesehir-Universität in Istanbul und arbeitet eng mit dem neu gegründeten "International Center for Education in Islamic Finance" in Kuala Lumpur, Malaysia zusammen.

Lange kapitalistische Tradition des Islam

Islamische Finanzwirtschaft ist seit vielen Jahren ein Schwerpunkt seiner Forschung. "Wer Angst hat, dass der Islam jetzt die Finanzmärkte erobert, hat nur Vorurteile", sagt er. "Der Islam ist seit 1500 Jahren auf den Kapitalmärkten aktiv. Wahrscheinlich haben Muslime sogar etwa 1000 Jahre vor Adam Smith den Kapitalismus erfunden. Ohne Zweifel ist der Islam eine kapitalistische Religion."

Moderne islamische Banken sieht Cizakca als "schönes Beispiel einer Synthese zwischen islamischen Traditionen und westlichen Institutionen: Die islamischen Finanzinstrumente haben sich aus der Mudaraba-Partnerschaft entwickelt, einer 1500 Jahre alten Einrichtung, aber ihre moderne juristische Form ist eine westliche Erfindung. Eine islamische Bank ist gewissermaßen eine in eine Kapitalgesellschaft verwandelte Mudaraba-Partnerschaft. Nicht viele Menschen wissen, dass das die Symbiose zwischen unseren Kulturen demonstriert."

Zivilisationsgeschichte für alle

Am heutigen 13. November hält er seinen Begrüßungsvortrag über "Islam und Christentum - Symbiose zweier Zivilizationen". In München wie in Istanbul unterrichtet er schwerpunktmäßig vergleichende Zivilisationsgeschichte von Islam und Christentum seit dem Mittelalter.

"Zunächst bot ich meine Vorlesung als Wahlveranstaltung an", erzählt er. "Bald wurde sie für alle Studenten der Betriebswirtschaft verpflichtend, dann für alle Fächer. Inzwischen kommen etwa 800 Studierende zu meiner Veranstaltung. Es ist sinnvoll, dass alle Studenten lernen und verstehen, wie unsere Kulturen voneinander gelernt und profitiert haben." Parallel arbeitet Cizakca an einem größeren Buchprojekt über die vergleichende Zivilisationsgeschichte.

Islamische Finanzwirtschaft Teil der Lösung

Natürlich ist ihm klar, dass auch der "Clash" zwischen muslimischer und westlicher Zivilisation existiert. "Viele arabische Muslime haben das Gefühl, dass die Kreuzzüge immer noch andauern. Der Islam hat enorme Niederlagen einstecken müssen, von den tatsächlichen Kreuzzügen über die Zerstörung von drei islamischen Großreichen in Indien, Iran und Türkei im 18. und 19. Jahrhundert bis zur Schaffung des Staates Israel. Verzweifelte Muslime haben auf die Tradition der Assassinen, Selbstmordattentäter aus dem 12. Jahrhundert, zurückgegriffen und sind damit zur Gefahr geworden."

Islamische Banken sieht Professor Cizakca als Teil der Lösung, nicht als Teil des Problems. "Ich denke, sie sind ein wichtiges Instrument, um die islamische Welt zu entwickeln und Armut auszurotten. Je besser es den Menschen wirtschaftlich geht, desto weniger werden sie Zuflucht zu radikalen Ideen und Mitteln suchen. Die Ideen der islamischen Finanzwirtschaft ähneln übrigens dem Ansatz der Mikrofinanz - beide versuchen, selbst arme Menschen zum Sparen zu bringen und in das Wirtschaftssystem zu integrieren."

Großes Marktpotential

Als Zentrum für Innovation im islamischen Bankgeschäft sieht Cizakca Malaysia, während Europa einen großen Zukunftsmarkt bietet. "Islamische Banken und Versicherungen werden weiter wachsen. Selbst im Westen sind Muslime daran interessiert, ihr Geld ohne Zinsen anzulegen oder eine Versicherung abzuschließen, die sich mit den Regeln der Scharia, dem islamischen Recht, vereinbaren lässt."

Auf die Frage, ob seine Forschung sich auch auf die jüdische Kultur erstreckt, betont er die Symbiose zwischen Muslimen und Juden im Mittelalter und später im Osmanischen Reich. "Muslime und Juden teilten während der Kreuzzüge das gleiche Schicksal. Als Juden nach 1492 aus dem rechristianisierten Spanien fliehen mussten, öffnete das Osmanische Reich seine Grenzen und nahm sie auf. In der Türkei funktioniert diese Symbiose nach wie vor gut."

Die Allianz Gruppe hat die Gastprofessur für islamische und jüdische Studien an der LMU München 2003 eingerichtet. Die Stiftung Allianz Direct Help, von Unternehmen der Allianz und Mitarbeiterspenden finanziert, hat das langfristige Projekt nach dem Terrorangriff des 11. September 2001 eingeführt, um den Dialog zwischen christlicher, jüdischer und islamischer Kultur zu fördern.

Quelle: Pressemitteilung Allianz Group

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