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Syriens verlorene Generation

Archivmeldung vom 18.08.2015

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.08.2015 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: "obs/SOS-Kinderdörfer weltweit/Hermann-Gmeiner-Fonds"
Bild: "obs/SOS-Kinderdörfer weltweit/Hermann-Gmeiner-Fonds"

Der Krieg in Syrien geht ins fünfte Jahr und hinterlässt eine verlorene Generation. Tausende Kinder erleben täglich wie ihr Zuhause zerstört wird, Familienangehöre sterben oder sie selbst durch Explosionen oder Heckenschützen verwundet werden - nicht ohne Folgen auch für die Gesellschaft!

Im Interview erklärt SOS-Psychologe Nabil Kafrouni (30) die Auswirkungen auf die Kinderseelen.

Herr Kafrouni, Sie behandeln Kinder im SOS-Child-Care-Center in Al-Saboura in Damaskus. Wie reagieren Kinder auf verstörende Kriegserlebnisse?

Kafrouni: Kinder, die direkt mit dem Krieg konfrontiert waren also Tote und Verletzte gesehen haben oder Bombardierungen und Explosionen erleben mussten, verdrängen die Erlebnisse oft. Das hat enorme Auswirkungen auf die seelische Gesundheit. Sie entwickeln Phobien z.B. gegen Geräusche. Für uns alltägliche Geräuschkulissen, werden für sie zur Bedrohung. Diese verursachen Angst und Panik, weil sie die Kinder an bestimmte Erlebnisse in der Vergangenheit erinnern. Andere verlieren das Vertrauen in die Menschen, die sie umgeben. Nach Gewalterfahrungen trauen sie niemandem mehr. Sie entwickeln z.B. Depressionen. Haben Angst raus zu gehen. Viele zeigen extrem aggressives Verhalten gegenüber ihrer Umwelt und sich selbst.

Was passiert mit Kindern, die keine psychologische Unterstützung erhalten?

Kafrouni: Trotz aller Anstrengungen erreichen Organisationen wie die UN, der Rote Halbmond und wir nur acht bis maximal zehn Prozent der traumatisierten Kinder. Die Folgen einer Nicht-Behandlung können erschreckend sein.

Ein Beispiel: Vor gut sechs Monaten wurden wir auf vier Kinder in einem Park in Damaskus aufmerksam. Sie lebten dort allein, waren offensichtlich Waisen. Zwei der Kinder konnten wir nach Genehmigung von den Sozialbehörden aufnehmen, zwei blieben dort.

Die beiden Kinder bei uns bekamen sofort psychologische Hilfe, eine Umgebung, in der sie sich sicher fühlen können, sie spielen, interagieren mit anderen Kindern. Ihre Entwicklung ist positiv. Aggressionen gegen sich selbst und gegen Mitmenschen nehmen deutlich ab.

Die anderen beiden im Park haben neulich ein Kind getötet beim Versuch ihm Geld zu stehlen. Sie sind neun und zehn Jahre alt!

Wie reagieren sie auf Traumata? Wie wirken sie entgegen?

Kafrouni: Traumatisierte Kinder suchen ständig Schutz. SOS reagiert auf dieses Bedürfnis, indem wir ihnen die Geborgenheit einer Familie und eines stabilen sicheren Umfelds geben.

Viele Kinder müssen zunächst medikamentös beruhigt werden. Dann versuchen wir, sie wieder mit ihrem Umfeld und der Umwelt zu konfrontieren. Zuerst mit Gleichaltrigen und Schritt für Schritt auch mit Erwachsenen. Wir schicken die Kinder zusammen mit Altersgenossen schwimmen oder Fußballspielen, damit sie wieder soziale Fähigkeiten ausbilden können und das Vertrauen in die Menschheit zurück gewinnen.

Können Kinder Schutzmechanismen ausbilden, um mit einer Kriegssituation besser umzugehen?

Kafrouni: Generell schon. Allerdings werden diese Fähigkeiten im Alter von sechs bis acht Jahren entwickelt. Wenn Kinder in dieser Zeit Gewalt oder verstörenden Ereignissen ausgesetzt sind, ist es sehr schwer für sie, diese Schutzmechanismen zu entwickeln. Wir beobachten in Syrien, dass die Kinder sehr schnell erwachsen werden. Ihr Verhalten entspricht nicht dem eines gleichaltrigen Kindes in Europa oder in den USA. In der Therapie versuchen wir sie mit Spielen, Malen etc. wieder zu dem Zeitpunkt zurückzuführen, der ihrem Alter entspricht.

Wollen Sie sagen, der Krieg hinterlässt eine Generation von Gewalttätern?

Kafrouni: Ja, die Möglichkeit besteht. Natürlich heißt das nicht, dass jedes syrische Kind, das während des Krieges aufwächst, zum Gewalttäter wird. Aber die Wahrscheinlichkeit ist deutlich erhöht bei schwer traumatisierten Kindern, die mehrfach Tod und Gewalt erlebt haben und dadurch komplexe Belastungsstörungen entwickelt haben. Wird diesen Kindern nicht geholfen, d.h. hört der Krieg nicht auf und schaffen wir es nicht, sie in die Gesellschaft zurückzuführen, ihnen ein sicheres Leben wieder zu geben, können sie Verhaltensweisen entwickeln, die für sie auch als Erwachsene nicht kontrollierbar sind: Angst, Aggression, Selbstaggression, Depression bis hin zu Kontrollverlust über ihren Körper. Hier ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieser Mensch, wenn er mit Gewalt konfrontiert wird, in alte Muster verfällt. Diese Menschen sind tickende Zeitbomben. Zudem neigen unbehandelte Kinder dazu, sich ein Umfeld zu suchen, indem sie ihre Aggressionen ausleben können. Für extremistische Gruppierungen sind diese Kinder eine leichte Beute.

Gibt es denn nichts, was dem entgegenwirkt?

Kafrouni: Doch. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Kinder eine starke Resilienz, eine starke psychische Widerstandskraft, entwickeln können. Diese Widerstandskraft entwickeln sie am besten in einer stabilen Familie, die ihnen Schutz und Geborgenheit gibt. Auf diesen Bereich sind wir bei den SOS-Kinderdörfern spezialisiert. Unsere Programme fokussieren genau darauf.

Quelle: SOS-Kinderdörfer weltweit/Hermann-Gmeiner-Fonds (ots)

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