Ex-Weltbank-Manager warnt: Geht der Westen an seiner eigenen Ideologie zugrunde?
Archivmeldung vom 02.03.2019
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer frühere Chef der Weltbank-Forschungsabteilung, Paul Collier, plädiert für einen „nationalen Patriotismus“ als Alternative zur grenzenlosen Globalisierung. Er befürchtet, die westliche Gesellschaft zerstört sich selbst. Im Berliner Ensemble hat er mit Grünen-Chef Robert Habeck über sein Buch „Sozialer Kapitalismus!“ diskutiert.
Weiter heißt es auf der deutschen Webseite: „„Glotzt nicht so romantisch!“, soll Bertolt Brecht gefordert haben. Dazu passend wurde am Dienstag auf der Bühne des von Brecht gegründeten „Berliner Ensembles“ vor dem Untergang des in sein eigenes Bild verliebten Westens gewarnt. Dieser drohe an seiner individualistischen Ideologie und den Folgen der grenzenlosen Globalisierung unterzugehen. Er brauche dagegen wieder mehr Gemeinschaftssinn. So sieht es der Ökonom von der Universität Oxford und ehemalige Weltbank-Forschungschef Paul Collier.
Aus dessen Sicht müssen die Menschen wieder mehr Gefühl für ihre Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen entwickeln, mit denen sie zusammenleben. Für Collier sind die wichtigsten sozialen Räume dafür die Familie, die Firma und der jeweilige Staat. Am besten gelinge das, wenn es wieder mehr „nationalen Patriotismus“ gebe – der dem von rechten Kräften gepredigten Nationalismus aber entgegenstehe.
Der Ökonom beschreibt das ausführlich in seinem neuen und kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Sozialer Kapitalismus!“. Das stellte er gemeinsam mit dem Ko-Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Robert Habeck und dem Journalisten Louis Klamroth vor. In seinem „Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“ beschreibt Collier einen Riss, der sich durch das Fundament der westlichen Gesellschaften ziehe: zwischen den Metropolen und dem Rest des Landes sowie zwischen den urbanen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung. Zwischen den gut ausgebildeten Schichten und den geringer Qualifizierten gebe es eine große Kluft.
Aus seiner Sicht geht „die größte wirtschaftliche Gefahr von der neuen, sich immer weiter öffnenden Wohlstandsschere zwischen Großstadt und Land sowie Hoch- und Geringqualifizierten“ aus. Die größte soziale Bedrohung resultiere daraus, dass die Menschen durch ihre unvereinbar erscheinenden Identitäten voneinander getrennt werden. Diese Trennung würde „durch die Echokammern der Social Media aufrechterhalten“. Die größte politische Gefahr durch diese Entwicklung sieht der Oxford-Professor in einem „exklusiven Nationalismus“, der ausschließe statt einzubeziehen.
Collier präsentierte auf der Theater-Bühne seine wichtigsten Thesen, die beim Grünen Habeck zum Teil auf deutlichen Widerspruch trafen. So sieht der Ökonom beispielsweise die Nation als Raum, in dem Menschen Zugehörigkeit erleben können. „Das tragfähigste moderne Konzept der Nationalität besteht darin, Menschen durch ein Gefühl der Verbundenheit mit demselben Ort zusammenzuschweißen“, schreibt er in seinem Buch. Diese Sicht setzt er bewusst gegen rechte Konzepte des Nationalismus, erklärte er in Berlin.
Habeck hadert nach seinen eigenen Worten mit Colliers Antwort auf die Probleme westlicher Gesellschaften in Folge des Neoliberalismus. Der Ex-Weltbank-Forscher fordert, sich wieder auf „Familie, Firma und Staat“ zurück zu besinnen. Den Grünen-Politiker störte besonders, dass der Ökonom der „urbanen, individualistischen, bessergebildeten Elite“ die Schuld für den Riss in der Gesellschaft gebe. „Schuld ist ein ungezügelter globaler Markt“, meinte dagegen Habeck, als wäre dieser Markt ein Naturereignis ohne menschliches Zutun.
Er sieht eine „Stoßrichtung des Buches“ darin, bestimmte soziale Gruppen für die gesellschaftlichen Probleme, wie die zunehmende soziale Ungleichheit verantwortlich zu machen. „Das führt dann zu einer Umerziehung sozialer Gruppen“, unterstellte der Grüne dem einstigen Weltbank-Forscher.
Für den Grünen-Politiker ist im Gegensatz zu Collier weniger Nationalstaat der „eigentliche Schlüssel“, um den Finanzsektor und die gigantischen Gewinne und Anlagevermögen einzuhegen. Das gehe – seinen eigenen Worten zufolge – nur mit transnationalen Instrumenten wie einer europäischen Besteuerung und Regulierung. „Was soll der Appell für einen Nationalstaat bei der Lösung internationaler Gerechtigkeitsfragen?“, wollte Habeck wissen, wofür er vereinzelten Beifall bekam.
Collier antwortete unter anderem mit Kritik an der Freiheit von Hochgebildeten, dahin zu gehen, wo die Produktivität schon am höchsten ist, also in die Metropolen. Er sieht die Alternative dazu darin, die Produktivität in den Regionen zu entwickeln, die inzwischen als abgehängt gelten, damit Menschen aus diesen gar nicht abwandern wollen.
Wie im „sehr persönlichen Buch“ (so Collier im Vorwort) verwies der Ökonom im Theater darauf, dass die soziale Spaltung selbst seine eigene Familie zerrissen hat. Während er globale Karriere machte, zähle seine gleichaltrige Cousine Sue aus Sheffield, zur Klasse der Abgehängten und Chancenlosen. Die Ursache sei, dass sie bestimmte Lebensentscheidungen traf, wie die für eine frühzeitige Schwangerschaft. Der Ökonom stammt ebenfalls aus Sheffield.
„Die Sheffielder sollen in Sheffield bleiben und nicht hin- und herziehen“, missdeutete der Grüne Habeck Colliers Thesen. Das würde die Freiheit der Mobilität beschränken. Der Ökonom sagte, dass er das nicht meinte. Es gehe dagegen um Perspektiven für Menschen dort, wo sie herkommen und aufwachsen. Eine „langfristig tragfähige, inklusive Identität“ lasse sich vor allem durch „ein Gefühl der Verbundenheit mit einem Ort“ aufbauen, schreibt er dazu in seinem Buch.
Er beklagte am Dienstag, dass gegenwärtig die Möglichkeiten einer Nation, Gesellschaft zu gestalten, nicht im Interesse ihrer Bürger genutzt würden. „Niemand benutzt diese Kraft im Interesse der gesamten Nation. Sie wird nur im Interesse einzelner Gruppen genutzt, die die Nation in ihrem Sinne gekapert haben.“
Im Buch wendet Collier sich dagegen, im Namen der „Weltbürger“-Agenda Nationen aufzulösen. Die politische Macht könne nicht auf transnationale Institutionen übertragen werden, wie auf die Europäische Union (EU), so wie es Habeck sich wünscht, oder die Vereinten Nationen, die Uno.
„Wie der Name Vereinte Nationen schon andeutet, setzt die Organisation voraus, dass Nationen, nicht Einzelpersonen die Bausteine der politischen Autorität sind, aus dem offensichtlichen Grund, dass in den meisten Gesellschaften die Nation die realistischerweise größtmögliche Einheit geteilter Identität ist.“
Werde politische Macht auf globaler Ebene konzentriert, „würden Menschen sich nicht bereitwillig deren Entscheidungen fügen“, so Collier. Das ist derzeit auf kontinentaler Ebene auch bei der EU zu beobachten. Macht werde so nicht in Autorität umgewandelt, meint der Ökonom: „Eine Weltregierung wäre so ungefähr das globale Pendant von Somalia.“
Der ehemalige Weltbank-Forscher widersprach auf der Theater-Bühne der Ideologie des ungehinderten Individualismus, dessen Freiheit heilig sein soll. Im Buch schreibt er dazu: „Dadurch, dass die Liberalen das gesellschaftliche Wirgefühl und den gutartigen Patriotismus, den es fördern kann, als irrelevant abtaten, verzichteten sie auf die einzige Kraft, die in der Lage ist, unsere Gesellschaften hinter erfolgversprechenden Lösungen zu einen.“
Er bescheinigte dem Grünen-Chef, dass dieser den Individualismus zelebriere. Doch dieser trenne nur die Erfolgreichen von jenen, die weniger Erfolg hätten und zerstöre so gesellschaftliche Bindungen und Netze. Die wiederholte Predigt von der unbegrenzten Freiheit der Einzelnen sei egoistisch, findet der Ökonom. Notwendig sei es, dahin zurückzukehren, die gegenseitigen Verpflichtungen der Mitglieder einer Gesellschaft zu akzeptieren.
Collier verwies darauf, wie sich das Problem auch auf der staatlichen Ebene zeigt. Gegenwärtig werde in Europa unter dem Etikett „Freizügigkeit und Freiheit“ versucht, Länder zu spalten. Er nannte als aktuelles Beispiel Katalonien, das von Spanien unabhängig sein will. „Wir haben gesehen, dass Slowenien und Kroatien erfolgreich Jugoslawien demontiert haben“, erinnerte er an ein historisches Beispiel, das damals von der Bundesrepublik aktiv befördert wurde.
Überall in der Welt würden reichere Regionen nicht mehr für ärmere Landesteile aufkommen wollen, so der Ökonom. Auch Schottland sei dafür ein Beispiel. Die Sezessionisten würden versuchen, sich ihrer Verpflichtungen gegenüber schwächeren Regionen innerhalb ihrer Nation zu entziehen. Das sei kein gutes Verständnis von Freizügigkeit und Freiheit und deren Möglichkeiten, betonte Collier. „Wir müssen sagen, was das ist: Egoismus.“
In seinem Buch meint er, dass ein „moralischer Pragmatismus“ einen politischen Kurswechsel auslösen könnte: „weg von polarisiertem Versagen hin zu kooperativen Bemühungen, die Spaltungen in unseren Gesellschaften zu überwinden.“ Es gehe um Verpflichtungen gegenüber den Schwächeren in der Gesellschaft, die aus gemeinsamen Identitäten entstehen würden.
Collier sieht sich aber keinesfalls als einen Linken, nicht nur, weil er dieser politischen Richtung vorwirft, die Gesellschaft mit ihren Vorstellungen „arrogant, vermessen und destruktiv“ mitgespalten zu haben. Der politischen Rechten wirft er vor, der „Idee des durchsetzungsstarken Individuums“, dem Bild des „homo oeconmicus“, blind gefolgt zu sein. Sie müsse zu einem „One-Nation-Konservatismus“ zurückkehren, wie er es formuliert.
Der Ökonom setzt auf eine Gesellschaft, „die den Kapitalismus auf pragmatische Weise auf der Grundlage rationaler Wechselseitigkeiten steuert“, die „mit sich selbst in Frieden ist“. Er wünscht sich mehr Ethik in Gesellschaft und Wirtschaft. Ob er damit einer romantischen Illusion folgt, wurde er in Brechts Theater am Berliner Schiffbauerdamm nicht gefragt.
Paul Collier: „Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“ - Verlag Siedler 2019. 320 Seiten. ISBN: 978-3-8275-0121-9. 20 Euro
Quelle: Sputnik (Deutschland) - Tilo Gräser