Donbass-Bewohner zum schwelenden Krieg: "Angriff der Ukraine für uns ohne Russland unaufhaltbar"
Archivmeldung vom 14.02.2022
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 14.02.2022 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Sanjo BabićMenschen, die nahe der Frontlinie in Donezk leben, teilen ihre Gedanken über Krieg, Frieden und die Zukunft der beiden selbsternannten Republiken. Eine Gemeinsamkeit haben ihre Ansichten: Einem Angriff der Ukraine hält der Donbass ohne Russlands Hilfe nicht stand. Dies berichtet das Magazin "RT DE".
Weiter berichtet RT DE: "Der Krieg in der Ukraine schwelt nun schon acht Jahre. In jüngster Zeit jedoch haben sich die Spannungen verschärft und mehrere westliche Staaten sagen eine bevorstehende "Invasion Russlands" in dessen Nachbarland voraus. Moskau weist die Gerüchte entschieden zurück und macht stattdessen die Ukraine verantwortlich, insbesondere Kiews zunehmenden Eifer, die "abtrünnigen Regionen" mit Gewalt zurückzuerobern, der durch die Waffen- und Munitionslieferungen des Westens noch angefacht wird.
RT bat den in Donezk lebenden Journalisten Wladislaw Úgolny zu beschreiben, wie das Leben in der Stadt aussieht, in der viele einen Rückfall zu intensiven Kriegshandlungen erwarten und was die Einwohner von Russland, der Ukraine und dem unaufhörlichen Trommelfeuer des Krieges halten.
Die "Invasion" (durch Russland natürlich) wird bekanntlich nach der sogenannten Rasputiza stattfinden, der Jahreszeit, in der die Straßen extrem schlammig werden und dadurch die Fortbewegung von Militärfahrzeugen und -gerät erschwert wird. Anscheinend haben die bewaffneten Freiwilligen im Donezk-Becken schon seit dem Jahr 2015 darauf gewartet, dass der Schlamm im Frühjahr austrocknet oder im Herbst fest gefriert. Jahr für Jahr. Der Mythos, den Tausende von Menschen geglaubt hatten, wurde zu einem lustigen Mem über den eingefrorenen Zustand der geopolitischen Geiseln – der abtrünnigen Republiken in der Ostukraine.
Vor sieben Jahren wurde mit dem zweiten Abkommen von Minsk die Frage der Selbstbestimmung der selbsternannten Republiken im Donbass auf Eis gelegt. Die politische Lösung sollte den bewaffneten Konflikt beenden und einen Rahmen schaffen, in dem das pro-russische und das pro-amerikanische System innerhalb eines Staates hätten koexistieren können. Während gleichzeitig die Neutralität der Ukraine gewährleistet werden sollte. Die diplomatischen Bemühungen konnten die Gewalt jedoch nicht stoppen und die Diplomatie hat den Krieg lediglich auf Gebiete entlang der Kontaktlinie eingeschränkt, an der jedoch auf beiden Seiten Millionen von Menschen leben.
Während die Staats- und Regierungschefs der Welt ihr Engagement für eine politische Lösung bekräftigten und erklärten, es gebe hierfür keine Alternative, wussten die vom Krieg im Donbass betroffenen Menschen, dass die Schießerei irgendwann wieder beginnen würde. Alle, aber auch wirklich alle, die Kämpfer selbst, aber auch Journalisten, Freiwillige, Ärzte, Priester und Aktivisten waren fester Überzeugung, dass dies irgendwann geschehen würde. Und gemäß dieser Überzeugung bereiteten sie sich vor. Das ist vielleicht das Einzige, was die Anhänger der Volksrepubliken und die ukrainischen Patrioten aller Radikalisierungsgrade gemeinsam haben: Die Zuversicht, dass eine neue Welle von Feindseligkeiten bevorsteht und die berüchtigte "Invasion" somit unvermeidlich ist.
In diesem Winter haben die internationalen Medien die Sprache der Kämpfer im Donbass vollends übernommen. Auch sie sprechen jetzt von der "russischen Rasputiza" als dem Hauptfaktor, der den genauen Zeitpunkt des Beginns der apokalyptischen "russischen Invasion" bestimmen wird, die die Staatlichkeit der Ukraine und die Einheit der NATO zerstören soll. Es gibt Gerüchte, dass sogar Joe Biden mit dem ukrainischen Präsidenten über gefrorenen Schlamm gesprochen hat. Wenn das stimmt, können wir davon ausgehen, dass das Weiße Haus und die globalistischen Medien ein noch nie dagewesenes Maß an Sachkenntnis bewiesen haben, denn jetzt beziehen sie ihre Information aus Anekdoten, die sich die Kämpfer im Donbass vor sieben Jahren ausgedacht haben.
Wir sind in Donezk, der Hauptstadt der Donezker Volksrepublik, und draußen herrschen plus 2 Grad Celsius. Die Menschen laufen auf dem langsam schmelzenden Schnee umher und zerstampfen ihn zu Matsch. Wir sind hier auf Erkundung und Faktensuche. Vielleicht einfach für den Fall, dass die Analysten des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten in zehn Jahren oder so ihre massiven Lügenkonstrukte mit einem Körnchen Wahrheit schmücken wollen.
Nicht nur die Einheimischen sind von den Ereignissen im Donbass betroffen. Wladimir Grubnik ist Arzt und war in seinem früheren Leben Chirurg und Professor an der Medizinischen Universität der Stadt Odessa.
Im Jahr 2015 wurde er wegen angeblicher Sabotageaktivitäten vom ukrainischen Sicherheitsdienst verhaftet. Er verbrachte über vier Jahre im Gefängnis und kam im Jahr 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen den DVR/LVR und der Ukraine frei.
Vor dem Krieg hatte Wladimir den Donbass nur ein einziges Mal besucht, als er an einer Chirurgen-Konferenz in der Kurstadt Swjatogorsk teilnahm. Die grausame Ironie besteht darin, dass das Erholungszentrum, in dem die Veranstaltung stattfand, später vom ukrainischen Sicherheitsdienst in ein wahres Konzentrationslager umgewandelt wurde. Dorthin wurden politische Gefangene gebracht, die für einen Austausch vorgesehen waren. Diese ursprünglich zum Kurieren der Menschen gebaute Einrichtung war nun durch Kontrollpunkte, Scharfschützenstellungen und Patrouilleneinheiten von der Außenwelt abgeriegelt. Wladimir erlebte das Rückzugszentrum in beiden Funktionen: "Es war schon etwas ironisch, dass ich zehn Jahre später am selben Ort landete – aber jetzt unter völlig anderen Umständen."
Auf die Frage, ob Donezk zu seiner zweiten Heimat geworden sei, zitierte der Odessit den Text eines in der gesamten ehemaligen UdSSR berühmten russischen Liedes aus den 1970er-Jahren: "'Meine Adresse ist nicht irgendeine Straße oder Hausnummer – die Sowjetunion ist meine Adresse'. Ich bin in der UdSSR geboren, ich bin ein sowjetischer Patriot, sie ist mein Land, meine große Heimat. Odessa, Donezk, Moskau, Kiew – ich mache keinen Unterschied zwischen diesen Städten. Sie sind alle wichtig und ich fühle mich persönlich für ihre Freiheit verantwortlich. Ich muss für ihre Befreiung kämpfen. Deshalb kann ich Donezk als meine zweite Heimat bezeichnen. Und ich sage, dass der Donbass die Region in Noworossija [historisch ein Teil Südrusslands, heute gehört der größere Teil davon zur Ukraine – Anm. d. Red.] ist, die das geschafft hat. Sie haben, wenn auch nur zum Teil, das geschafft, was wir nicht geschafft haben. Dieses 'zum Teil' ist nun etwas, worüber wir reden können."
Wladimir ist nicht mit allem einverstanden, was im Donbass passiert. So erwähnt er, dass die Menschen auf ein ganz anderes Szenario hofften, als die Veränderungen im Jahr 2014 begannen: Sie wollten mit Russland wiedervereint werden, so wie es auf der Krim der Fall war.
Dann setzte die Ukraine militante Nazis ein und begann einen Krieg und dieser führte schließlich zu den Minsker Vereinbarungen, die nun jeden Aspekt des Lebens hier beeinflussen. Niemand im Donbass, vor allem nicht die Beamten und Milizkommandeure, kann sich gegen den Vektor Minsk II stellen, weil er vom Establishment der einzigen Schutzmacht der Republiken, Russland, sanktioniert wurde. Dass die Menschen sich dabei durchaus auch verstellen können, exerziert Wladimir (allerdings an einem anderen Bereich menschlichen Zusammenlebens in den Republiken) vor:
"Einige Beamte sind bereit, ihr letztes Hemd zu geben und überhaupt alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit es ihrem Volk an nichts mangelt. Das ist sehr inspirierend und zutiefst rührend. Und es gibt andere: Opportunisten, die heute unter der Flagge der Republiken dienen, aber morgen leicht die Seiten wechseln könnten. Die Minsker Abkommen schränken die Möglichkeiten der Menschen aus der ersten Gruppe ein, während die Blender und Opportunisten im Ausleben ihrer fehlenden Integrität völlige Freiheit genießen können. Sie haben ja keinen ideologischen Filter, der ihnen helfen könnte, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Jeder setzt seine eigenen Maßstäbe."
Nicht anders sei es in Bezug auf die Minsker Vereinbarungen. Diese würden die Anhänger von Noworossija (im Übrigen auch die in Russland und woanders außerhalb der beiden Volksrepubliken. Anm. d. Red.) zwingen, die Donbass-Republiken formell als ukrainisches Staatsgebiet anzuerkennen. Wladimir ist der Ansicht, dass eine derartige hybride Politik schizophrenieähnliche Reaktionen hervorruft. Die Ungewissheit, Doppelzüngigkeit und Zweideutigkeit würden die Menschen demoralisieren – sie wüssten nicht, wie ihre Zukunft aussehen werde, und zweifelten daran, dass all ihre Bemühungen Erfolg haben würden. Sie hätten Angst, dass sie statt einer Wiedervereinigung mit Russland einen Kompromiss eingehen und einem Sonderstatus für den Donbass zustimmen müssten, womit sie gleichzeitig Teil der Ukraine blieben.
Wie Zehntausende anderer Menschen, die seit dem Jahr 2014 Teil des Russischen Frühlings sind, beschreibt Wladimir seine Position als "Nulltoleranz gegenüber dem naziukrainischen Staat". Er bestand darauf, genau diesen Begriff zu verwenden. Seine späte Biographie macht es ihm vielleicht einfacher, diese Ansicht kompromisslos zu vertreten:
"Für mich persönlich ist die Sache einfacher: Danke, dass ihr uns befreit habt, und ab hier übernehmen wir selber. Nachdem ich zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde, bin ich einfach nur glücklich, frei zu sein. Schon das übertrifft all meine Erwartungen."
Erwartungen an internationale Organisationen halten sich bei Wladimir erfahrungsbedingt in Grenzen. Erst neulich sprach er mit Charlotta Relander, der OSZE-Koordinatorin der Arbeitsuntergruppe für humanitäre Fragen innerhalb der Trilateralen Kontaktgruppe für den Konflikt im Donbass. Wladimir unterhält keine Illusionen über ein Interesse der OSZE, die Sichtweise eines ehemaligen Kriegsgefangenen zu hören.
Er hält die Organisation für politisch voreingenommen. Ihr Handeln bestätigt ihn in dieser Ansicht: So sah die OSZE doch tatenlos zu, als im vergangenen Herbst ukrainische Spezialkräfte Andrej Kosjak entführten, der als Mitglied des Gemeinsamen Kontroll- und Koordinierungszentrums für Waffenstillstand und Stabilisierung der Demarkationslinie in der Volksrepublik Lugansk diplomatische Immunität genießt. Wladimir ist der Ansicht, dass sich die Organisation völlig diskreditiert hat und im Donbass nicht tätig sein sollte:
"Das ist im Grunde legitimierte Spionage, sie arbeiten dem Feind zu – und das schon die ganze Zeit."
Neben derartigen Verstößen gegen die Minsker Abkommen und gegen das Regime des Waffenstillstandes habe das Kiewer Regime auch eine örtliche militärische Überlegenheit über die beiden Volksrepubliken aufgebaut:
"Für mich hat dieser Krieg im Jahr 2014 begonnen und dauert immer noch an. Heute werden andere Methoden angewendet, aber das bedeutet nicht, dass sich etwas geändert hat. Nicht jeder wird mir zustimmen, aber ich denke, wir befanden und befinden uns schon die ganze Zeit im Krieg. Der nazistische ukrainische Staat ist bereit zum Eskalieren – das ist eine Tatsache. Deshalb müssen auch wir bereit sein, damit wir angemessen reagieren können. Leider sind die Republiken im Moment in einem miserablen Zustand und die Lage der Volksmilizen ist sogar noch übler. Sie werden nicht in der Lage sein, einer ukrainischen Großoffensive im Alleingang standzuhalten."
Hilfe, die Russland im Ernstfall somit leisten müsste, dürfe sich, anders als es zuvor denkbar war, nicht mehr auf verdeckte Maßnahmen beschränken, räsoniert Wladimir weiter:
"Daher ist die Frage nach der Hilfe der russischen Armee besonders aktuell. Ebenso wie die damit verbundenen Fragen, wann und wie diese Hilfe kommen wird. Können die Truppen sofort nach Beginn der Aktion einrücken – oder erst einige Tage später, wenn es hier niemanden mehr zu retten gibt? Nur glauben oder hoffen reicht nicht mehr. Man muss sich über seine Chancen im Klaren sein und dabei alle möglichen Faktoren berücksichtigen, einschließlich der globalen Politik und des Handlungsspielraums, den die russische Regierung haben wird oder haben könnte. Man muss sich überlegen, unter welchen Umständen Russland gezwungen sein wird, nicht nur eine Militäraktion im Donbass zu starten, sondern auch entlang der gesamten russisch-ukrainischen Grenze auf breiter Front zu operieren. Wie schnell wird die Entscheidung über eine Intervention getroffen werden? Wird es sich dabei um konventionelle oder hybride Kriegsführung handeln? Vieles wird von den konkreten Antworten auf diese Fragen abhängen. Die Zeiten der verdeckten Operationen, bei denen die offizielle Darstellung eine russische Militärpräsenz vor Ort verschleiern würde, sind vorbei. Jetzt ist es an der Zeit, jeden einzelnen Faktor zu berücksichtigen – denn er wird über das Ergebnis entscheiden. Der Teufel steckt im Detail."
Bevor wir uns verabschieden, erörtert der Chirurg den Unterschied zwischen dem Leben im Zentrum der Volksrepublik Donezk und in den Außenbezirken der Stadt, nahe der Frontlinie:
"Das macht den großen Unterschied aus, ob man 'bloß' in Kriegszeiten lebt oder aber mitten auf dem Schlachtfeld. Manchmal bewegt man sich ein paar Kilometer von der Frontlinie weg – und kann den Krieg völlig vergessen. Menschen, die in den sichereren Gebieten leben, neigen dann auch dazu, sich nicht mehr wirklich um das Schicksal der weniger Glücklichen zu kümmern. Und während die einen ins Gras beißen, blöken andere, um Wladimir Majakowskis berühmtes Gedicht 'Euch!' zu zitieren, 'mit kotelett-bekleckerten Lippen' 'geile Sewerjaninsche Schnulzen' hinaus. Das ist die Realität, in der wir heute leben."
Ehrlicherweise muss man jedoch sagen: Auch diejenigen, die in den sichereren Gebieten leben, fühlen sich immer noch befremdlich. Auf dem Schlachtfeld leben sie vielleicht nicht, dafür aber auf jeden Fall in einer Art Schwebezustand. Und dieses Gefühl des "Dazwischenseins" werden sie nicht los. Manche vergleichen es mit dem Leben im Grenzland, im Frontier. Es ist, als befände man sich auf dem brutalen "russischen Feld der Experimente" (dieses Konzept führte der russische Punkrockmusiker und Konzeptkünstler Jegor Letow ein). Die Menschen leben in einem Grenzzustand, der Kulturologe mag hier ebenso treffend wie nichtssagend gar vom Liminalen daherreden. Sie können es oft nicht genau dingfest machen – doch sie alle nehmen an diesem Geschehen teil und leisten ihren eigenen Beitrag.
Die "Underground Stage" ist eine Rockbar in Donezk, mit der wichtigste Veranstaltungsort für die örtlichen Künstler. Heute kommen nur sehr wenige Musiker "von außen" mit ihren Auftritten in das Konfliktgebiet. Viele haben Angst vor der instabilen Lage, andere wollen nicht in der Ukraine verboten werden, und manche glauben wiederum, dass Auftritte im Donbass ihrem Ruf schaden könnten. Und wieder andere verstehen einfach nicht, wie sie finanziell davon profitieren können, wenn sie ihre Musik in einer Region spielen, die von einer humanitären Krise heimgesucht wird. Die einzigen Musiker, die hierherkommen, sind diejenigen, die ein politisches Statement abgeben wollen. Sie kommen fast ausnahmslos aus Russland. Das sind etwa die Rockstars Julia Tschhitscherina und Wadim Samoilow, oder auch die Rapper Rem Digga und Husky.
Doch wenn sie nicht in der Stadt sind, sorgen lokale Bands für Live-Musik. Und die Isolation, in der sich der Donbass somit befindet, ermutigt lokale Künstler. Es muss ja immer jemand da sein, der Lieder singt, Gedichte schreibt und von der Bühne aus zu den Menschen spricht. Wenn die Bühne leer bleibt und die Stars vom friedlichen "Festland" nur in Form von digitalen Tracks verfügbar sind, muss eben jemand vor Ort einspringen und die Lücke füllen.
So entstand die Donbass-eigene Metal-Band Высота 277. Der Name Wyssota 277, auf Deutsch "Höhe 277", ist eine Anspielung an den auch nach seiner Höhe von 277,9 Metern referierten Kurgan Saur-Mogila, der in den Kämpfen gegen die Nazi-Truppen sowohl im Großen Vaterländischen Krieg als auch in der heißen Phase der Ukraine-Krise im Jahr 2014 strategisch wichtig und Schauplatz von Schlachten war. Im Donbass wurde die Band mit ihrem Lied "Голос малых городов (В петле капитала)" bekannt. Übersetzt lautet der Titel ungefähr so: "Stimme der Kleinstädte (in der Schlinge des Kapitals)" Die Band spielt melodischen Metal mit linkspatriotischen Texten.
Und diejenigen, die keine eigene Musik schreiben, produzierten seitdem stattdessen viele Coverversionen beliebter Songs aus den Jahren etwa um 2007 herum, um in Erinnerungen an die guten alten Zeiten zu schwelgen, als sie noch jung waren. Im Donbass gibt es eine Menge Coverbands. Denn während der Rest der Welt erst im Jahr 2020 mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie erfuhr, wie es ist, wenn alle Veranstaltungen abgesagt werden, hatte der Donbass bereits sechs Jahre lang mit der Isolation zu kämpfen. Und man fand einen Weg, damit umzugehen. Mal singen die Einheimischen eine Coverversion von "Kukuschka" mit (oder werden auch mal mit einem Tribut-Rap gefoppt), einem Lied des bekannten russischen Rockstars Viktor Tsoi, der vor zwei Jahrzehnten bei einem Autounfall ums Leben kam. "Кукушка" (Rus.: "Kuckuck") in der Coverversion von Polina Gagarina ist im Donbass zu einem beliebten Kampflied geworden. Und am nächsten Abend slammen, moshen und pogen die Leute zu den Nu-Metal-Klängen der US-Bands Korn oder System of a Down, von einheimischen Musikern des "Vetkin Project" gespielt.
Der Frontmann singt nicht nur auf Englisch, sondern spricht auch das Publikum absichtlich auf Englisch an. Hiermit will man ein authentisches Erlebnis bieten, sodass die Fans eine Stunde lang das Gefühl haben, das jeweilige Original wirklich live vor sich zu haben. Echt kann das natürlich nicht sein, denn etwa Korn würden aus allen möglichen Gründen niemals im Donbass auf der Bühne stehen. Weil die Welt wegen der COVID-19-Pandemie durch Reisesperren getrennt ist, weil im Donbass Krieg herrscht und weil Korn bereits Geschichte sind – und weder COVID-19 noch der Krieg im Donbass Teil dieser Geschichte waren. Aber wenn die jungen Leute hier Korn oder SoaD live hören wollen, dann werden sie auch Korn oder SoaD live hören, jawohl! Sie schaffen sich ihre eigene Realität so gut es geht.
Das Gleiche gilt im Donbass für andere Künste, auch für die Kinematographie. Anton Gorochow ist 28 Jahre alt. Er erzählt, vor acht Jahren als Freiwilliger hierhergekommen zu sein und schon bald eine Gruppe von Drohnenpiloten geleitet zu haben. Mit der Zeit erkannte er, dass zum Leben mehr gehört als das Schlachtfeld. Heute dreht Anton Filme über Menschen. Unter anderem war er Exekutivproduzent des ersten Spielfilms über den Krieg im Donbass, der in der Volksrepublik Lugansk gedreht wurde: "Ополченочка" – auf Deutsch "Das Milizmädchen".
"Es gibt definitiv eine Nachfrage nach Kunst und Filmen, die aufklären und die erzählen, was vor sich geht. 'Opoltschenotschka' erzählt die Geschichte einer Panzerbesatzung, die ausschließlich aus Frauen besteht, die aus verschiedenen Gründen im Donbass in den Krieg geraten sind. Wir haben den Film sowohl in Russland als auch in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk gezeigt – und überall haben die Menschen gebeten, mehr Geschichten über den Donbass und seine Menschen gezeigt zu bekommen. Die Menschen bitten uns, weiterhin Filme über ihre Erfahrungen hier zu drehen."
Anton wurde bald stellvertretender Vorsitzender des Verbands der Filmkünstler des Donbass, nachdem die gemeinnützige Organisation in der LVR am achten Februar 2022 angemeldet wurde. Im Moment hat der Verband große Pläne und will gemeinsame Projekte mit russischen Filmemachern diskutieren. Vertreten werden unter anderem das Lugansker Volkskinostudio in Swerdlowsk und die Lugafilm-Studios sowie die Donfilm-Studios in Schachhtjorsk, die den philosophischen Film "Samyssel" (Rus.: "Plan", "Plot", "Konzept" oder "Vorstellung") produziert haben. Auch will man Kollegen aus der russischen Region Rostow-am-Don mit einbeziehen. Die Filmemacher aus dem Donbass wollen die Entwicklung des Genres der patriotischen Kriegsfilme anführen. Hierfür verfügen sie über einen reichen Fundus an kriegsbezogenen Geschichten, den sie anzapfen können, und an Schauspielern, die das Kriegsgeschehen aus erster Hand kennen. In dieser Hinsicht sind sie allen russischen oder postsowjetischen Filmstudios voraus. Der Verband der Filmkünstler des Donbass plant, im Februar und März dieses Jahres in Donezk und Lugansk Filmfestivals zu veranstalten.
"Ob eine Eskalation unsere Pläne ändern wird? Nein, das wird sie nicht. Wir arbeiten jetzt seit acht Jahren hier in den vom Krieg betroffenen abtrünnigen Republiken und haben schon viele Eskalationen mitgemacht. Und selbst falls ein ausgewachsener Krieg ausbricht, werden wir darauf reagieren, indem wir mehr Filme drehen. Wir werden weniger schlafen und mehr arbeiten. Aber natürlich kann ich es kaum erwarten, dass Russland endlich den Sprung wagt und seine südlichen Territorien wieder einfordert. Auf jeden Fall werde ich weiterhin das tun, was ich tue, nämlich meine militärische Pflicht erfüllen, Filme drehen und Geschichten erzählen."
Anton leitet außerdem ein weiteres Projekt, die Delegation der beiden nicht anerkannten Republiken im Rahmen des Jungdiplomatenkorps der jüngsten Staaten. Dieser dient der Förderung von Kontakten zwischen jungen Menschen in Russland und im Donbass und soll auch die Anerkennung der Souveränität der abtrünnigen Donbass-Republiken durch die Zivilgesellschaft unterstützen. Anton ist der Ansicht, eine Plattform denjenigen zu bieten, die in den nicht anerkannten Republiken leben, damit sie ihre Meinungsverschiedenheiten mit der internationalen Gemeinschaft äußern können, sei von entscheidender Bedeutung. Denn es sei "weder die UNO noch andere internationale Organisationen in der Lage, die Herausforderungen zu bewältigen, mit denen sie konfrontiert sind – weshalb wir vorschlagen, nach neuen Wegen zum Schaffen einer neuen, ausgewogenen Weltordnung zu suchen."
Zu den jungen Menschen, denen Anton eine Plattform geben will, gehören der 24-jährige Alexander und seine 25-jährige Freundin Irina. Beide haben einen Bachelor-Abschluss in Geschichtswissenschaften von der Nationalen Universität Donezk. Nun arbeitet Irina am Magisterabschluss an ihrer Alma Mater, während Alexander sich für einen Abschluss an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg entschieden hat. Aufgrund der COVID-19-Pandemie befindet er sich jedoch noch in Donezk und muss sich zunächst mit einem Fernstudium begnügen.
Obwohl die jungen Leute russische Pässe haben, fühlt es sich für Irina nicht so an, als sei sie eine Bürgerin Russlands. Tatsächlich würde sie eine Eskalation im Donbass begrüßen:
"Ein Krieg kostet Menschenleben, was sehr schlimm ist – aber gleichzeitig liegt in ihm die Hoffnung, dass die ukrainische Frage endlich gelöst wird. Langfristig gesehen ist ein Krieg auf breiter Front weniger gefährlich als ein jahrzehntelang andauernder Konflikt geringer Intensität."
Irina ist sich bewusst, dass eine politische Lösung immer Verhandlungen voraussetzt. Verhandlungen aber seien nur dann gerechtfertigt, wenn die Konfliktparteien etwas gemeinsam hätten und sich gegenseitig etwas anbieten könnten:
"Wir konzentrieren uns immer auf die globalen Akteure, projizieren unsere Situation auf Russland und die USA, die sich gegenseitig ja viel zu bieten haben. Eine politische Lösung ist in diesem Fall gerechtfertigt. Doch hier, in einer kleineren Arena, sind andere Akteure beteiligt – die Russen des Donbass und die ukrainische Regierung. Verhandlungen kann es in unserem Fall nicht geben."
Um es auf den Punkt zu bringen, zitiert Irina einen berühmten Satz von Michail Drosdowski, einem russischen General aus der Zeit des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution, der auf der Seite der Weißen Garde kämpfte:
"Wir haben Meinungsverschiedenheiten in der Agrarfrage: Sie wollen uns auf diesem Land begraben und wir wollen nicht, dass sie das Land betreten."
"Es ist einfach so, dass dieses Land uns gehört. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Das bedeutet, dass das einzig mögliche Szenario der Krieg ist. Außerdem wissen wir aus der Geschichte, dass es kein einziges Beispiel dafür gibt, dass ein Konflikt durch eine friedliche Beilegung erfolgreich gelöst wurde. Es gibt immer höchstens Vermittlung, aber diese Politik ist nur vorübergehend wirksam, bis das Ganze wieder explodiert."
Gefragt, was sie im Falle einer Eskalation tun werde, scherzt Irina zunächst:
"Ich werde für Noworossija beten. Im Ernst. Alles hängt davon ab, wie die Militärkampagne verläuft. Ich werde den geplanten Umzug nach Sankt Petersburg auf unbestimmte Zeit verschieben müssen. Mit meiner derzeitigen Berufsausbildung werde ich tun, was ich kann, um der Zivilbevölkerung zu helfen. Erschwerend kommt hinzu, dass in Charkow ein mir sehr nahestehender Mensch lebt. Wenn ich also ganz offen sein soll, bin ich bereit, noch radikalere Maßnahmen zu ergreifen, wenn es sein muss."
Alexander hingegen identifiziert sich schon als russischer Staatsbürger. Anders als seine Freundin sehnt er eine Eskalation nicht einmal als das sprichwörtliche "Ende mit Schrecken" herbei, ist dafür aber auf jeden Fall zuversichtlich:
"Ich bin besorgt über die derzeitige Eskalation des Konflikts, aber ich setze meine Hoffnungen auf militärische und politische Unterstützung seitens Russlands. Als russischer Staatsbürger möchte ich sicher sein, dass die Frage der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten im Februar positiv gelöst wird."
Alexander ist der Ansicht, dass eine politische Lösung im Rahmen der Minsker Vereinbarungen das schlechteste Ergebnis wäre. Er bezeichnet sich selbst als "vehementen Gegner einer Wiedereingliederung des Donbass in die Ukraine". Das einzige Szenario für eine politische Lösung, das er für akzeptabel hält, ist die Anerkennung der DVR/LPR als unabhängige Region durch Russland und ihre anschließende Integration in Russland. Die einzige alternative Option bestehe darin, zum Stadium des eingefrorenen Konflikts zurückzukehren.
Alexander befindet sich derzeit im letzten Studienjahr an einer russischen Universität. Er studiert online und wird, unabhängig davon, wie sich die Situation entwickelt, nach Sankt Petersburg ziehen und sich für ein Postgraduiertenstudium einschreiben. Eine Zukunft im Donbass sieht er für sich nicht:
"Selbst wenn die DVR/LPR unter die Zuständigkeit Russlands fallen: Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Qualität der hiesigen politischen und wirtschaftlichen Verwaltung das durchschnittliche Niveau der russischen Regionen erreicht hat. Auf der Krim können wir das sehen."
Auch der freiwillige Helfer Wladimir ist mit der derzeitigen politischen und wirtschaftlichen Verwaltung des Donbass nicht zufrieden. Seit mehreren Jahren leistet der 24-Jährige humanitäre Hilfe für die Bevölkerung, die unter dem anhaltenden militärischen Konflikt leidet:
"Irgendwo in Jassinowataja oder im Kiewski Bezirk von Donezk gibt es ein Haus. Es gehört einer alten Frau. Im Jahr 2016 oder vielleicht auch 2017 wurde ihr Haus von Artilleriebeschuss getroffen und die Fenster gingen zu Bruch. Falls sie Verwandte hat und diese vernünftige, empathische Leute sind, werden sie wohl ein Fenster für sie reparieren, wenn auch nicht sofort. Falls es aber niemanden gibt, der ihr hilft, muss sie die Löcher mit allem Möglichen stopfen, was sie gerade zur Hand hat, oder mit Material, das sie von ihren Nachbarn bekommt. Geld, um neue Fenster zu kaufen, hat sie nicht. Sie wird also die ganze Zeit in einem dunklen und feuchten Haus leben. Die Feuchtigkeit wird durch kleine Risse und Lücken um die abgedeckten Fenster herum eindringen und zu schwarzem Schimmel an den Wänden und Decken führen. Und der bringt sie dann schließlich irgendwann um."
Mitbürgern zu helfen, die in eine derartige Situation geraten sind, ist Wladimirs Aufgabe. Er sei überrascht, dass die Regierung der DVR in den fünf Jahren relativer Ruhe an der Frontlinie absolut nichts getan habe, um die Folgen der Kampfhandlungen zu beseitigen. Es seien keine oder keine genügenden Sofortmaßnahmen ergriffen worden, um den nahe der Frontlinie lebenden Menschen bei einem Umzug weiter ins "Landesinnere" zu helfen, oder um Binnenvertriebene aus den von der Ukraine eingenommenen Städten zu unterstützen, die in überfüllten Erholungseinrichtungen oder baufälligen Schlafsälen unterkommen mussten.
"Ein Fenster zu ersetzen, dauert lange. Zuerst werden die Maße genommen und dann muss man warten, bis das Fenster hergestellt ist. Wenn es sich um ein einziges Fenster handelt, geht alles noch mehr oder weniger schnell. Aber bei einer Großbestellung für mehrere Familien dauert die Bearbeitung länger und auch die Koordinierung erfordert Zeit. Wir hatten sogar schon mehrere Fälle, in denen der Kunde die versprochene Unterstützung nicht erhalten hat, bevor er verstarb. Wenn wir endlich bei einer alten Frau ankommen, der wir ein Fenster einbauen sollen, ist es manchmal schon zu spät. Sie ist gestorben, sagt man uns. Das ist schon mehrmals vorgekommen. Einmal wurden wir sogar bei einem Leichenschmaus mit Gebäck bewirtet."
Anders als Irina und Alexander misst Wladimir der gegenwärtigen Eskalation keine große Bedeutung bei. Auch glaubt er nicht, dass sich der Status der Donbass-Republiken ändern wird. Bei einer Sache ist er sich sicher: Jede Offensive, die sich nur auf den Donbass beschränkt – ganz gleich, ob sie von der Ukraine, den Donbass-Republiken oder den Russen ausgehe –, werde nur noch mehr Zerstörung bringen und weitere Menschenleben fordern:
"Das hier ist ein urbanisiertes Gebiet, in dem beide Konfliktparteien acht Jahre in den Schützengräben verbracht haben. Debalzewo wurde zerstört und nach sieben Jahren liegt es noch immer in Trümmern. Warum sollen wir noch mehr Menschenleben verlieren, Zehntausende von Menschenleben? Wenn die Ukraine gewinnt, muss sie sich mit der Krim-Frage auseinandersetzen sowie mit der Notwendigkeit, die Region Donbass, die sie mit eigenen Händen zerstört hat, wiederaufzubauen. Wenn die Republiken die Oberhand gewinnen, wird der Krieg weitergehen. Nur wird die Frontlinie dann von Gorlowka und Donezk nach Mariupol und Slawjansk verlegt."
Ein Ende des Krieges sieht Wladimir nur in einem Szenario: Falls Russland die militärischen Kapazitäten der Ukraine in deren Hinterland mit einem Schlag entscheidend schädigt.
"Nur die russischen Friedenstruppen können diesen Krieg beenden – mit einem massiven Angriff gegen die hinteren Teile der ukrainischen Streitkräfte. Nur das kann helfen, den Krieg in Donezk und Gorlowka, in Mariupol und Slawjansk, in Charkow, in Odessa, in Kiew zu beenden. Und das ist der Zeitpunkt, an dem die Krim endlich genug Süßwasser bekommt. (Die Ukraine hat fast 90 Prozent der Wasserversorgung der Krim blockiert, nachdem sich die Republik Russland angeschlossen hatte. Anm. d. Red.) Und dann werde auch ich endlich in der Lage sein, diesen Haufen Abschaum, unsere Beamten, zu fragen: Wo ist das Geld, das die Verluste der Zivilbevölkerung verhindern sollte? Wo ist das Geld geblieben, werde ich sie fragen. Mir ist egal, ob sie dann denken, ich würde mich auf die Seite der Ukraine stellen."
Diese Menschen, die Opfer eines geopolitischen Konflikts geworden sind, machen sich nichts vor. Sie bestehen nicht darauf, der von ihnen eingeschlagene Weg sei perfekt und über jeden Vorwurf erhaben.
Die Rasputiza, die wir im September 2014 bei der Unterzeichnung des ersten Minsker Protokolls und im Februar 2015 bei der Unterzeichnung von Minsk II erlebten, brachte den Donbass und das übrige Noworossija von ihrem Weg der Wiedervereinigung mit Russland ab. Schmutzige Politik hat es fast geschafft, Millionen von Menschen vorzugaukeln, dass alles, was sie durchgemacht haben, all die Kämpfe, die Entbehrungen, die im Krieg getöteten Freunde und Familienangehörigen, alle Niederlagen und Siege gänzlich anderen Zielen dienten. Fast.
Doch jedes Volk hat seine nur ihm eigene Legende, an die es sich in Zeiten der Not wendet. Auch die Russen im Donbass bilden hier keine Ausnahme. Sie leben weiter in ihrer Heimat und hoffen, dass diese durch die hybride Politik geprägte Zeit der Rasputiza eines Tages vorbei ist und all das Böse und Niederträchtige, das jetzt geschieht, zusammen mit dem Schlamm der Donez-Steppen starrgefriert. Und dann werden diese Menschen, die heute in ständiger Angst leben müssen, für sie könnte es vielleicht kein Morgen geben, endlich die Chance bekommen, ihre Städte und sich selbst zu befreien.
Ob sie Angst vor einer "russischen Invasion" haben? Im Gegenteil: Sie hoffen darauf. Und sie nennen sie eine "humanitäre Intervention"."
Quelle: RT DE