Afghanistan ist (noch) kein zweites Irak - aber Unzufriedenheit und Ungeduld wachsen
Archivmeldung vom 03.12.2007
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 03.12.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSechs Jahre nach dem Sturz der Taliban zeigt sich in Afghanistan eine wachsende Kluft zwischen den umkämpften Provinzen im Südwesten und Osten und dem relativ ruhigen Nordosten, wo die Bundeswehr ihr Haupteinsatzgebiet hat. Dieses Ergebnis ergibt eine große repräsentative Umfrage, die das "Afghan Institute for Social and Public Opinion Research" im Auftrag von WDR/ARD, ABC und BBC durchgeführt hat.
Auf den ersten Blick zeichnen die Zahlen ein unerwartet positives
Bild, das den Einschätzungen von Medien und Hilfsorganisationen zu
widersprechen scheint: eine Mehrheit der Afghanen (54 %) glaubt
weiter, dass das Land sich in die richtige Richtung bewegt, die
Regierung von Präsident Karsai bekommt positive Werte (je nach Frage
zwischen 63 und 82 %) , Deutschland genießt hohes Ansehen am
Hindukush (70 %) , und selbst für die USA schwanken die Werte
zwischen einer sehr für islamische Länder ungewöhnlich hohen
Grundsymphatie (66 %) und dramatisch gesunkenen Noten für ihr
konkretes Engagement in Afghanistan: nur noch 42 Prozent der
Befragten bewerten die Leistung der USA mit gut oder sehr gut, ein
Rückgang um 25 Prozent gegenüber einer ähnlichen Umfrage vor zwei
Jahren.
"Ihre Brisanz entfaltet die Befragung von 1377 Frauen und Männern vor allem beim Blick auf die extremen Unterschiede zwischen den Regionen", erläutert Arnd Henze, der als stellvertretender Auslandschef des WDR die Umfrage betreut hat. Besonders eindrücklich zeigen sich die Gegensätze bei der Frage nach der Zukunftserwartung für die eigenen Kinder. Landesweit rechnen 51 Prozent der Afghanen damit, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden. In der südwestlichen Provinz Kandahar, wo neben den USA vor allem kanadische NATO-Truppen gegen die wieder erstarkten Taliban kämpfen, teilen nur 18 Prozent diese Hoffnung - in Kunduz, wo die Bundeswehr im Einsatz ist, sind es 66 Prozent. Entsprechend beschreiben 70 Prozent der Befragten im Nordosten die Sicherheitslage positiv, während im Südwesten eine fast genau so deutliche Mehrheit (62 %) zu einem negativen Urteil kommt.
Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die Bewertung ausländischer
Truppen in den verschiedenen Regionen : stieg im Nordosten die
Unterstützung für die NATO-Schutzschutztruppe ISAF innerhalb des
letzten Jahres von 70 auf 72 Prozent, so halbierten sich nahezu die
Werte im Südwesten von 83 auf gerade noch 45 Prozent. "Man kann
anhand der sehr genauen örtlichen Tabellen erkennen, wie jeder
Militärschlag mit zivilen Opfern die Stimmung gegenüber den
Amerikanern unmittelbar zum Kippen gebracht hat.", erklärt Arnd
Henze.
Bemerkenswert ist allerdings, dass - anders als im Irak - nur wenige
den Sturz der Taliban durch ausländische Truppen grundsätzlich in
Frage stellen. Im Gegenteil: in vielen Gegenden werden die USA und
ihre Verbündeten als zu schwach und zu wenig präsent im Kampf gegen
die wieder erstarkten Taliban erlebt. Insofern wächst die Ungeduld
mit den ausländischen Truppen - in der Frage nach einem Abzugstermin
ist die Bevölkerung zunehmend gespalten: 48 Prozent der Afghanen
befürworten einen Abzug der US-Truppen innerhalb der nächsten beiden
Jahre, 41 Prozent wollen, dass die Truppen so lange bleiben, bis die
Sicherheitslage im Lande stabil ist. Vor zwei Jahren hatten sich noch
zwei Drittel der Befragten für ein langfristiges Engagement der
US-Truppen ausgesprochen.
Beunruhigend ist, dass die Zustimmung zu Anschlägen gegen US-Truppen
im Südwesten von 7 auf 27 Prozent gestiegen ist- und auch im
Nordosten, wo die Bundeswehr im Einsatz ist, zeigt inzwischen fast
jeder fünfte Sympathie für Gewalt gegen die ISAF-Truppen.
"Diese Werte sind allerdings noch weit von der Situation im Irak
entfernt", erläutert Arnd Henze, "dort unterstützt nach einer
vergleichbaren Umfrage sogar eine Mehrheit der Bevölkerung (57 %)
Anschläge auf fremde Truppen."
Angesichts der andauernden Kämpfe befürworten 60 Prozent der
Afghanen das umstrittene Angebot von Präsident Karsai, mit den
Taliban zu verhandeln und sie in eine Regierung einzubinden.
Überhaupt erzielt Hamid Karsai in unterschiedlichen Fragen
ungewöhnlich positive Werte. Diese Zustimmung ist allerdings vor
allem mit dem Mangel an Alternativen zu erklären. Nur 4 Prozent
bevorzugen eine Führung durch die Taliban, eine Herrschaft regionaler
Kriegsherren oder ein Regime aus religiösen Führern finden überhaupt
keinen Rückhalt in der Bevölkerung. "Nach Jahrzehnten von Kriegen und
unterschiedlichen Schreckensregimen setzen die Afghanen auch
gegenüber der eigenen Regierung immer noch auf das Prinzip Hoffnung",
so Henze.
Wie sich die Situation in Afghanistan weiter entwickelt, wird
entscheidend von Fortschritten beim Wiederaufbau des Landes abhängen.
Hier zeigt sich im Einsatzgebiet der Bundewehr ein gemischtes Bild:
im Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage vor einem Jahr sehen die
Menschen erhebliche Fortschritte beim Bau von Straßen und Brücken,
bei der Versorgung mit sauberem Wasser sowie beim Angebot an Schulen.
Dagegen gibt es bei der Versorgung mit Strom und Heizöl, bei der
Schaffung von Arbeitsplätzen und beim Aufbau der Polizei deutliche
Rückschläge. Und besonders belastend für die Menschen ist der enorme
Anstieg der Preise für Lebensmittel - 60 Prozent der Haushalte
verfügen über ein Monatseinkommen von unter 100,- US-Dollar.
Gegen den landesweiten Trend hat sich im Nordosten die Situation der
Frauen weiter positiv entwickelt: 72 Prozent beschreiben sie als gut
oder sehr gut. Vor allem in den Kampfzonen im Südwesten und Osten
leiden dagegen die Frauen besonders unter dem zunehmenden Chaos: in
der Provinz Helmand bewerten nur noch 22 Prozent der Befragten die
Situation der Frauen positiv.
Bei konkreten Fragen zeigen sich darüber hinaus extreme Unterschiede
zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Stadt- und
Landbevölkerung. So unterstützen 90 Prozent der Frauen in Städten die
Position, dass Frauen Regierungsämter übernehmen sollen - nur eine
Minderheit der Männer sieht das ebenso. Und während 42 Prozent der
weiblichen Stadtbevölkerung in den Städten die Burka ablehnen, halten
84 Prozent aller Männer an dieser Form der Verhüllung fest.
Ein weiteres kontroverses Thema der Umfrage betrifft den
Drogenanbau. Das Land produziert 93 Prozent des weltweiten Rohopiums.
Die Milliarden-Einnahmen finanzieren nicht zuletzt die Aufrüstung der
Taliban und lokaler Warlords. Landesweit fordern 86 Prozent der
Afghanen Maßnahmen der Regierung. Zugleich hält aber mehr als ein
Drittel (36 %) den Opiumanbau für legitim, solange es für die
Menschen keine andere Form des Broterwerbs gibt. In den Provinzen,
die besonders mit Drogenanbau zu tun haben, sind es sogar fast
doppelt so viele (64 %), die diese Einschränkung machen.
Mit fast 100 Fragen an 1377 Männer und Frauen ist die Umfrage von ARD, ABC und BBC die umfangreichste und differenzierteste Untersuchung, die seit dem Sturz der Taliban vor sechs Jahren in Afghanistan durchgeführt wurde. "Nur der genaue Blick auf die Lage im Lande bewahrt uns vor der Falle, die Entwicklung entweder schön zu reden oder in lähmende Schwarzmalerei zu verfallen", erklärt WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn, der die Studie am heutigen Montag in der Tagesschau und in den Tagesthemen präsentieren wird. "Die Umfrage wird sicher auch helfen, die politische Diskussion über das zukünftige Engagement in Afghanistan zu schärfen." Die Ergebnisse der Umfrage werden zeitgleich auch in den USA und in Großbritannien veröffentlicht.
Quelle: WDR, ABC und BBC