Nach gewaltsamen Protesten auf der Mittelmeerinsel – Kommt endlich die Autonomie für Korsika?
Archivmeldung vom 17.03.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićMit zugestandenen Rechten der Autonomie ist es schwierig. Wer dieser Tage sofort an die von Russland anerkannten Gebiete Donezk und Lugansk denkt, weiß, dass es auf die Perspektive ankommt. Der jeweilige politische Blickwinkel entscheidet, ob es sich um zulässige Autonomiebestrebungen oder um verurteilenswerte Bestrebungen von Separatisten – oder schlimmer noch – von üblen Nationalisten handelt. Dies berichtet das Magazin "Wochenblick.at".
Weiter berichtet das Magazin: "Aber auch inmitten von Europa gibt es derartige Autonomiebestrebungen, die explosiv sein können – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein aktuelles Beispiel: Korsika!
Wer in Österreich oder Deutschland an Korsika denkt, wird eher Mittelmeertemperaturen, eine Insellage, wunderschöne Strände, weitläufige Gebirgslandschaften und vor allem Urlaub im Kopf haben. Dass die Korsen, die sich als eigenständiges Volk verstehen, seit Jahrzehnten, eigentlich seit Jahrhunderten um ihre Identität kämpfen und sich vom aus Paris gesteuerten Zentralstaat Frankreich im Rahmen einer größtmöglichen Autonomie stärker lossagen wollen, ist nicht jedem Mainstreamkonsumenten bewusst, denn die Freiheitskämpfer werden von Paris gerne als Nationalisten und Separatisten stigmatisiert. Aber jetzt, kurz vor der Präsidentenwahl in Frankreich steht das Thema Korsika urplötzlich wieder auf der Tagesordnung. Das hat seinen Grund, und der heißt Yvan Colonna.
Inhaftierter Islamist greift korsischen Nationalhelden lebensgefährlich an
Yvan Colonna gilt auf Korsika als Nationalheld im Kampf um die Unabhängigkeit. Der ehemalige Schäfer hatte sich über lange Jahre am bewaffneten Freiheitskampf der Korsen beteiligt, wurde dann nach seiner Verhaftung im Jahr 2007 wegen der Ermordung des damaligen korsischen Präfekten auf Korsika im Jahr 1998 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Lediglich aufgrund von Indizien für schuldig befunden, widerriefen im Prozess fast alle Zeugen ihre belastenden Aussagen, behaupteten, von den Vernehmungsbeamten gefoltert worden zu sein. Und auch der Verurteilte selbst beteuerte während und nach dem Prozess immer wieder seine Unschuld. Er sitzt auf dem Festland in Arles unter besonderer Beobachtung der Behörden ein. Am 2. März attackierte ihn nun ein islamistischer Mithäftling. Der 36-jährige Franck Elong Abé, ein Dschihadist, verletzte Colonna schwer. Dieser liegt seitdem im Koma.
Wer hat Schuld am Angriff?
Familie, Freunde und politische Mitstreiter von Colonna machen den französischen Staat für den Angriff mitverantwortlich. Colonna sei permanent beobachtet worden, das Gerücht des absichtlichen Wegschauens beim Kampf zwischen dem 36-Järigen Abé und dem 63-jährigen Colonna macht die Runde. Kein Wunder also, dass es seit dem Vorfall auf Korsika zu schweren Ausschreitungen durch Autonomiebefürworter kam. Die 1976 in einem Kloster gegründete Korsische Nationale Befreiungsfront, die FLNC, und ihre zahlreichen Untergruppen und Abspaltungen haben zwar im Jahr 2014 gelobt, den bewaffneten Kampf einzustellen und sich nur noch politisch zu betätigen, aber ein kleiner Funke könnte für ein Wiederaufleben der früheren „explosiven“ Zeiten sorgen.
Beide Seiten zeigen sich hart: Demonstrationen, Provokationen, Übergriffe
Bei einer Demonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern ist es jetzt erwartungsgemäß zu Ausschreitungen gekommen. Einige Demonstranten sollen Molotowcocktails und selbstgebaute Sprengkörper geworfen haben, die vom Festland stammenden eingesetzten Polizeibeamten sollen indes hart gegen alle Protestierer vorgegangen sein. Die Demonstranten skandierten “Französischer Staat – Mörder”. Ein erster Brandanschlag galt dem verhassten Finanzamt in Bastia. Der neuerliche Ausbruch der Gewalt wird damit begründet, dass die Insel seit Jahren der angestrebten Autonomie keinen Schritt näher gekommen ist, obwohl ihr das seinerzeit für den Gewaltverzicht von Paris zugesichert gewesen sei. “Das gesamte korsische Volk lehnt sich gegen Ungerechtigkeit auf und fordert die Wahrheit und eine politische Lösung”, befand der Chef der korsischen Regionalregierung Gilles Simeoni, ein früherer Anwalt Colonnas.
Paris lenkt schnell ein und gelobt wieder einmal Besserung
Unerwartet schnell hat die Regierung in Paris nun eingelenkt. Das könnte der anstehenden Präsidentenwahl geschuldet sein. Unruhen könnten immerhin das Wahlverhalten beeinflussen. Ein erbitterter Streitpunkt wurde bereits beigelegt: Premierminister Jean Castex versprach, andere korsische Häftlinge auf die Insel zu verlegen. Die bisherige Praxis, korsische Häftlinge weitab von der Insel auf dem Festland zu inhaftieren, wurde als Schikane erachtet, immerhin waren Besuche im Gefängnis für die Angehörigen zeit- und kostenintensiv. Und Innenminister Gérald Darmanin kündigte eiligst neue Gesprächsrunden über mehr Autonomie für die Insel ein, reiste für Gespräche schon an. Von Emmanuel Macron hörte man indes nichts zum Thema, müsste er doch erklären, warum man Korsen Autonomierechte zubilligt, aber Russen in den Autonomiegebieten Donezk und Luhansk nicht, oder?"
Quelle: Wochenblick