Iran-Expertin Azadeh Zamirirad: Auch die Angst vor dem Zerfall des Staates wie in Libyen schützt das System der Mullahs
Archivmeldung vom 04.01.2018
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Freigeschaltet durch André OttSind die Unruhen eine Neuauflage des "grünen" Aufbegehrens von 2009? Azadeh Zamirirad: Es gibt eine Reihe von Unterschieden zu damals, als Hunderttausende demonstriert haben. Diesmal sind die Unruhen von der Peripherie des Landes ausgegangen, wo zunächst nur einige Dutzend Menschen aufgrund von Arbeitslosigkeit und hohen Lebenshaltungskosten protestiert haben.
Mittlerweile sind Tausende auf den Straßen, mit sehr unterschiedlichen Anliegen. Die Proteste verlaufen dezentral und konzentrieren sich nicht so stark nur auf Teheran. Selbst wenn sie in Teheran abebben sollten, können sie in anderen Teilen des Landes weiter an Fahrt gewinnen. Anders als damals gibt es auch noch keine Identifikationsfiguren, hinter denen sich die Demonstranten scharen und auch keine gemeinsame Plattform.
Die Regierung ließ soziale Medien sperren. Hat sie ihre Lehren aus dem Arabischen Frühling gezogen, als diese die Rebellion anheizten? Zamirirad: Die Lehren hat sie schon 2009 gezogen, als Medien wie Facebook oder Twitter genutzt wurden, um Proteste zu koordinieren. Die Regierung ist immer wieder gegen solche Medien vorgegangen, hat Dienste sperren lassen oder die Internetverbindung gedrosselt. Die iranische Bevölkerung ist aber so etwas wie ein digitaler Nomade. Man ist massenhaft von einem Dienst zum anderen gewandert. Heute wird vor allem Telegram genutzt. Bis zu 40 Millionen Iraner sollen diese App nutzen, das wäre jede zweite Person im Land. Deshalb wird dieser Dienst derzeit auch vom Staat blockiert.
Ist hier eine Bürgerbewegung quer durch alle Schichten entstanden? Zamirirad: Bürgerbewegungen gibt es in Iran schon lange. Das Land hat eine lebendige Zivilgesellschaft, eine starke Frauenbewegung und selbstbewusste Aktivisten in der Studentenschaft. Das Besondere an der neuen Protestwelle gegenüber 2009 ist eher das Zerfaserte, die fehlende hierarchische Gliederung. Und die Proteste gehen dabei tatsächlich quer durch verschiedene Gesellschaftsschichten. Der gemeinsame Nenner ist bisher lediglich die Unzufriedenheit mit dem Status Quo. So etwas wie eine neue gemeinschaftliche Bewegung ist noch nicht in Sicht.
Der Internationale Währungsfonds erwartet ein Wachstum von 4,2 Prozent. Erreicht der Aufschwung die Massen? Zamirirad: Nein, die Massen wird er auch 2018 nicht erreichen. Das bisherige positive Wirtschaftswachstum Irans ist vor allem auf den Ölsektor zurückzuführen ist, der von der Aufhebung der Energiesanktionen profitiert hat. Das ist aber kein Bereich, in dem massenhaft neue Arbeitsplätze entstehen. Dazu müsste schon der Nichtölsektor deutlich wachsen. Selbst mit den 840000 Stellen, die Ruhani für das folgende iranische Kalenderjahr in Aussicht gestellt hat, wäre noch nicht mal der Bedarf von denen gedeckt, die jedes Jahr zusätzlich auf den iranischen Arbeitsmarkt strömen - das heißt, die Arbeitslosenrate wird noch weiter steigen.
Ist die Unzufriedenheit über Armut und fehlende Perspektiven ein Hebel für Ruhanis konservative Gegner? Zamirirad: Die wirtschaftliche Not wird von den Konservativen immer wieder genutzt. Sie versuchen, auf dieser Basis regelmäßig, Stimmung gegen die Regierung zu machen. Bei den Präsidentschaftswahlen waren sie damit aber nicht sehr erfolgreich. Obwohl in Umfragen eine Mehrheit Rohani gar keine hohe wirtschaftliche Kompetenz zugesprochen hat, wurde er dennoch gewählt. Seinen Herausforderern hat man die realitätsfernen Versprechungen nach Millionen von Arbeitsplätzen nicht abgekauft. Aber auch wenn die momentane Kritik an der Regierung von vielen Konservativen begrüßt wird, können sie kein Interesse an flächendeckenden Protesten haben, die am Ende nicht nur die Regierung, sondern auch das System gefährden könnten.
Kann es sein, dass der große Rivale Saudi-Arabien die Unruhen schürt, wie Teheran behauptet? Zamirirad: Es ist ein gängiges Reaktionsmuster in Teheran und Riad, sich gegenseitig Einmischung zu unterstellen. Iran wirft Saudi-Arabien schon seit Jahren vor, im südöstlichen Grenzgebiet zu Pakistan belutschische Separatisten zu unterstützen, um Unruhen zu schüren. Die derzeitigen Proteste sind aber nicht vom Süden ausgegangen, sondern vom Nordosten. Letztlich ist aber auch die Frage, von wo die Initialzündung ausging, nachrangig. Entscheidend ist, dass diese anfänglichen Proteste landesweit auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Das wäre nicht möglich, wenn es nicht flächendeckend so viel Unmut geben würde.
Wie tief sitzt die Frustration, dass nach 2009 die durch den Krieg mit dem Irak gehärtete Generation die theokratisch-autoritären Strukturen stärkte, Reformvorhaben dagegen oft versandeten? Zamirirad: Der Frust ist sehr groß, bricht sich aber nicht zum ersten Mal Bahn. Ernüchterung gab es schon zur Zeit des Reformerpräsidenten Mohammad Chatami, der vor allem von jungen Menschen, darunter viele Frauen, gewählt worden war, aber letztlich nur sehr wenig für sie bewegt hat. Mit der Grünen Bewegung von 2009 gab es eine neue Aufbruchsstimmung. Dass sie zerschlagen wurde und keine radikalen Änderungen mit sich gebracht hat, war für viele ein herber Rückschlag. Heute hören wir von vielen Demonstranten, dass 2009 für sie kein Vorbild ist. Sie sehen sich nicht in der Tradition der damaligen Proteste.
Vor wenigen Tagen teilte Teheran mit, dass Frauen, die die islamische Kleiderordnung nicht befolgen, künftig nicht mehr inhaftiert, sondern belehrt würden. Sind die Prinzipien des Gottesstaates nie in den Köpfen der normalen Bürger angekommen? Zamirirad: Man hat in den vergangenen Jahrzehnten auf den Straßen verschiedener Metropolen - in Teheran oder Isfahan - gesehen, dass viele junge Frauen diese Kleidervorschriften als Element einer solchen Gesellschaftsordnung nicht akzeptieren. Mittlerweile sehen Sie Frauen teilweise auch ganz ohne Kopftuch im Auto sitzen. Viele der Anforderungen des iranischen Staates an seine Bürger sind immer wieder ins Leere gelaufen. Das ist bei der heutigen Generation nicht anders. Dass es keine rechtlichen Konsequenzen mehr haben soll, wenn man gegen die strikte Kleiderordnung verstößt, ist eine Folge dieser Entwicklungen.
Erstmals wurde auch der Tod Chameneis gefordert, seine Bilder verbrannt. Hat er noch die Autorität, seinen Nachfolger zu bestimmen? Zamirirad: Formal bestimmt der Revolutionsführer nicht selbst seinen Nachfolger. Für die Wahl ist der so genannte Expertenrat zuständig. Aber es ist davon auszugehen, dass Khamenei eine wesentliche Rolle in diesem Entscheidungsprozess spielen will. Noch sind wir nicht an dem Punkt, an dem er zu geschwächt wäre, um Einfluss ausüben zu können. Generell verfügt er aber nicht über die religiöse Autorität und machtpolitische Stellung seines Vorgängers Ayatollah Chomenei. Inwieweit er das Erbe dieser Revolution weiter mitprägen kann, hängt auch davon ab, wie er als oberste herrschaftspolitische Instanz mit dieser Krisensituation umgehen wird.
Bisher schweigt Europa überwiegend. Was könnte es tun, um die Zivilgesellschaft im Iran zu stützen? Zamirirad: Auf lange Sicht ist vor allem der gesellschaftliche Austausch zwischen Iran und europäischen Staaten wichtig. Hierzu braucht es bilaterale Kulturabkommen, die Förderung von Hochpartnerschaften und erleichterte Visa-Verfahren. Aber mit Blick auf die derzeitigen Ereignisse muss es zunächst vor allem darum gehen, klar Position gegen jegliche Form von Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu beziehen. Hunderte Menschen wurden bislang verhaftet. Diese Menschen dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Es muss ein dringliches Anliegen der EU sein, ihren Verbleib und die Verfahren, die gegen sie eröffnet werden, nicht nur genau zu verfolgen, sondern auch zum festen Gegenstand bei allen künftigen Treffen mit iranischen Entscheidungsträgern zu machen.
Der Aufstand gegen den Schah war auch stark eine Jugendrevolte. Besteht die Möglichkeit, dass die islamische Revolution von ihren säkularen Kindern oder Enkeln gefressen wird? Zamirirad: Es wäre nicht das erste Mal, dass Proteste in Iran einen unerwarteten Ausgang nehmen. Aber noch sind die Demonstrationen nicht systemgefährdend. Die wesentlichen Machtzentren des Staates scheinen intakt und sein Gewaltmonopol ist ungebrochen. Dieses Monopol wird nicht nur von Polizei und Armee aufrechterhalten, sondern auch von Paramilitärs und Freiwilligenmilizen. Die Situation könnte sich natürlich ändern, beispielsweise wenn es Unterstützung aus Teilen der bewaffneten Kräfte oder wesentlicher Machtzentren gäbe. Nicht wenige fürchten sich allerdings auch davor, dass bei weiteren Eskalationen Iran einst so enden könnte wie Libyen.
Zur Person
Azadeh Zamirirad ist Wissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie ist dort in der Forschungsgruppe Naher/ Mittlerer Osten und Afrika. Der Iran und die Atomverhandlungen sind dabei unter anderem ihr Forschungsschwerpunkt. Sie lehrte auch an der Uni Potsdam
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)