ROG: Erdogan muss endlich Meinungs- und Pressefreiheit respektieren
Archivmeldung vom 06.08.2014
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittReporter ohne Grenzen fordert den türkischen Ministerpräsidenten und Präsidentschaftskandidaten Recep Tayyip Erdogan auf, endlich die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei zu respektieren. In den vergangenen Monaten ist es zu zahlreichen Fällen massiver Zensur gekommen, mehrere Journalisten stehen wegen kritischer Berichterstattung vor Gericht.
"Als Ministerpräsident hinterlässt Erdogan beim Thema Pressefreiheit eine fatale Bilanz, er hat die Medien während der vergangenen Jahre gezielt an die Kandare genommen und kritische Journalisten unter Druck gesetzt", sagt ROG-Geschäftsführer Christian Mihr in Berlin. "Wir fürchten, dass er auch als Staatspräsident die freie Meinungsäußerung einschränken wird. Die Europäische Union sollte bei allen Gesprächen mit der Türkei die Meinungs- und Pressefreiheit zu einer klaren Bedingung für einen möglichen EU-Beitritt machen."
Erdogan hat während der vergangenen Jahre seinen Einfluss auf Teile der Medienlandschaft ausgedehnt. Der unabhängige türkische Presserat rügte bereits, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Turkish Radio and Television Corporation (TRT) dem Politiker im aktuellen Wahlkampf zu viel Sendezeit einräume. Am 4. Juli dieses Jahres strahlte TRT zum Beispiel eine Wahlkampfrede Erdogans in ihrer gesamten Länge von einer Stunde und zwanzig Minuten aus, während er dem gemeinsamen Kandidaten der größten Oppositionsparteien MHP und CHP, Ekmeleddin İhsanoğlu, gerade einmal eine Minute zubilligte. Als Selahattin Demirtaş, Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei der Völker (HDP), den TRT ebenso fast vollständig ignoriert, dem Sender einseitige Berichterstattung vorwarf, drohte TRT-Intendant İbrahim Şahin sogar, Live-Sendungen mit Demirtaş zu unterbrechen, sollte er die "schweren Anschuldigungen" wiederholen. (http://bit.ly/1sukhvh)
Eingriffe in die Berichterstattung, Anklage kritischer Journalisten
Die Politik greift auch direkt in die Berichterstattung ein. Am 16. Juni dieses Jahres etwa verbot ein Gericht in Ankara allen türkischen Medien, über die Entführung von 80 türkischen Bürgern im Nordirak durch die islamistische Terrororganisation ISIS zu berichten. Bei Verstößen drohten Bußgelder oder ein temporärer Lizenzentzug für Radio und Fernsehsender. (http://bit.ly/1obxslh) Wegen ihrer kritischen Meinung wurde seit Juli vergangenen Jahres bis Juni dieses Jahres insgesamt 384 Journalisten gekündigt oder sie wurden zur Kündigung gedrängt. (http://bit.ly/1sujXfR )
Zum Jahrestag des Beginns der Gezi-Proteste am 31. Mai dieses Jahres ging die Regierung erneut gegen Journalisten vor. Rund 25 000 Polizisten mit 50 Wasserwerfern waren in ganz Istanbul stationiert, um neuerliche Proteste im Keim zu ersticken. Beim Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen wurden mindestens zehn Journalisten verletzt, unter ihnen Gökhan Biçici von der Nachrichtenwebseite Dokuz8Haber und Zeynep Kuray von der pro-kurdischen Nachrichtenagentur ANF. Das Fernsehteam von CNN International mit seinem Korrespondenten Ivan Watson wurde vorübergehend sogar festgesetzt. (http://reut.rs/Sqt9ok)
Wenn sie allzu kritisch berichten, müssen Journalisten in der Türkei mit Gerichtsverfahren und Haft rechnen. Der Karikaturist Mehmet Düzenli sitzt etwa seit 12. Juni dieses Jahres wegen einer kontroversen Zeichnung über den muslimischen Prediger Adnan Oktar für insgesamt drei Monate in Haft. (http://bit.ly/1nMltYW) Seit 20. März dieses Jahres wird auch gegen den Journalisten und Buchautor Erol Özkoray vor einem Istanbuler Gericht verhandelt. Özkoray zitiert in seinem 2013 erschienenen Buch "The Gezi Phenomenon" bekannte Rufe der Demonstranten aus dem vergangenen Jahr: Wegen Zitaten wie "Sei kein Arsch, hör den Leuten zu", "Du bist eine Schande, tritt ab" oder "Tayyip, Du trägst keine Schuld an Deiner Geburt" drohen dem Publizisten 32 Monate Haft wegen Beleidigung und Verunglimpfung der türkischen Nation.
Zahlreiche Haftentlassungen - doch viele Verfahren gegen Journalisten noch immer anhängig
Die Türkei hat seit Jahresbeginn 24 Journalisten aus der Haft entlassen - auch aufgrund der negativen Wahrnehmung des Landes als eines der größten Gefängnisse für Journalisten weltweit. Viele dieser Reporter und Redakteure waren zum Teil jahrelang in sogenannter Sicherungsverwahrung untergebracht. Freigesprochen sind sie aber immer noch nicht, die Verfahren gegen sie sind lediglich anhängig.
Erst am 8. Juli dieses Jahres hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei verurteilt, weil sie über ein Jahr lang die beiden Journalisten Ahmet Sik und Nedim ohne ausreichende Beweislage in Untersuchungshaft inhaftiert hatte. Die beiden hatten zuvor kritisiert, der türkische Staat überziehe die politische Opposition mit Gerichtsverfahren und wolle Kritiker mit Prozessen zum Schweigen bringen. Derzeit sitzen noch drei Journalisten im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit hinter Gittern. (http://bit.ly/1tVMeik)
Vorübergehende Sperrung von Twitter und YouTube
Auch das Internet und die sozialen Netzwerke werden kontrolliert und eingeschränkt. Weil sie angebliche Telefonmitschnitte verbreiteten, in denen Erdogan seinen Sohn aufforderte, hohe Geldsummen vor Korruptionsermittlern zu beseitigen, ließ Erdogan Ende März Twitter und YouTube in der Türkei blockieren. Er hob die Sperre erst nach der Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts auf, das sie als "illegal" einstufte. (http://bit.ly/1nIQpfa)
Am 19. Februar dieses Jahres unterzeichnete Staatspräsident Abdullah Gül zudem ein Internetgesetz, das die Sperrung von Webseiten zunächst ohne Gerichtsbeschluss ermöglicht. Die zuständige Behörde für Telekommunikationsaufsicht kann seither Blogs, Nachrichtenportale und andere Internetmedien blockieren. Ein Richter hat bis zu 48 Stunden Zeit, um die Entscheidung zu bestätigen. (http://bit.ly/1p9MTtr)
Auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit belegt die Türkei Platz 154 von 180 Ländern. Weitere Meldungen zur Situation in dem Land finden Sie unter http://en.rsf.org/turkey.html.
Quelle: Reporter ohne Grenzen e.V. (ots)