Parlament als Lotterie? Schweizer wollen Losverfahren in Politik bringen
Archivmeldung vom 20.05.2017
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMit einem Losverfahren will die Initiative Generation Nomination die Schweizer direkte Demokratie noch direkter machen und den Nationalrat nicht mehr über den Weg der Wahlen besetzen. Ein Sputnik-Exklusiv-Interview.
Adrian Oertli ist Experte im Bereich Rechts- und Linksextremismus und äußert sich in den Medien oft zu aktuellen Themen aus diesen Bereichen. Seit neustem ist Oertli auch Mitglied von Generation Nomination, einer Initiative, die die Schweizer Politik von Grund auf umgestalten will. Für Oertli ist das Losverfahren das eigentlich demokratische Verfahren, schon im antiken Griechenland von Aristoteles als solches formuliert. Denn es gehe bei der Demokratie darum, das Volk in seiner Heterogenität zu repräsentieren und eine zufällige Stichprobe sei der sicherste Weg dahin.
Die aktuelle Wahl befriedigt den Initiator dagegen nicht: „Realistischerweise braucht man, um gewählt zu werden Strukturen, die einen unterstützen. Entweder man hat selbst viel Geld oder eine große Parteistruktur hinter sich, die die ganze Propaganda übernimmt“, erklärt Oertli das Problem. Außerdem sei die gängige Politik schlicht und ergreifend ressourcenverschwendend, denn es gehe nicht mehr um Sachpolitik, sondern zunehmend um den Aufbau von Images und Marketing.
„Ich denke, extrem viel Energie im politischen Bereich wird verschwendet für Marketing und in Form von Personenkult“, bemerkt Oertli.
Das Losverfahren hingegen eröffnet jedem stimmberechtigten Schweizer die Möglichkeit, plötzlich Politiker zu sein, wobei man, so Oertli, das Los auch ablehnen kann. Für die erfolgreiche politische Karriere sieht Generation Nomination auch eine Lösung vor: „Bevor man in den Nationalrat geht und die politischen Ämter übernimmt, hat man ein Jahr Schulung, damit man wirklich gut darauf vorbereitet ist“, erläutert Oertli. Darin würden den Menschen das politische System und der aktuelle Gesetzesstand erklärt. Die Kapazitäten für eine solche Fortbildung stehen jederzeit bereit: Man muss sich einfach von langjährigen Mitarbeitern der Behörden beraten lassen.
Nötig ist eine solche „Durchmischung“ nach Ansicht Örtlis, weil die derzeitigen Politiker nicht die Gesellschaft repräsentieren.
„Ich kenne keinen Nationalrat, der Koch ist. Es sind meistens Anwälte, Studierte – eher höhere Bildungsschichten.“
Darüber hinaus ist es für Oertli ein großes Problem, dass die Mächtigen oft aus eigenen Interessen politische Entscheidungen treffen. Das fängt bei Parteizugehörigkeit an und geht über die Geldgeber bis hin zu Lobbys, die die Politik diktieren. Das führt laut Oertli direkt dazu, dass die Unternehmen in der Politik besser vertreten sind und das wiederum hat zur Folge, dass die Arbeitnehmer in der Schweiz sehr eingeschränkte Rechte haben. Das alles soll das Losverfahren nach Oertli aus der Politik verbannen.
Ein anderer Kritikpunkt ist nach Oertlis Ansicht eine weit verbreitete „Opferhaltung“, der „normalen Bürger“.
„Die Mächtigen sind auch immer eine gute Projektionsfläche für alle Probleme und es ist auch immer sehr bequem in dieser Opferhaltung zu verharren und alle Probleme der Welt auf die Machthaber zu projizieren“, führt Oertli aus.
Aus dieser Opferhaltung würde man hinauskatapultiert, wenn man plötzlich herrschen soll und sich die Frage stellt: „Was müsste ich machen, wenn ich selbst in der Position der „herrschenden Macht“ bin?“
Ob man aber nach einem Jahr Ausbildung über die nötigen Kompetenzen verfügen kann? Oertli antwortet abwägend: Auf der einen Seite könne es zwar wirklich an Kompetenzen fehlen, auf der anderen aber kämen eigene Interessen auf Kosten anderer ins Spiel. Außerdem gibt Oertli zu bedenken:
„Wenn ich persönlich den Nationalrat so anschaue, sehe ich dort auch nicht überall die hohen, intellektuell begabten Leute. Die Gefahr des Eigennutzes sehe ich also als viel höher an als die Gefahr der fehlenden Interessen.“
Für Oertli seien Menschen oft sehr faul, sich um Probleme zu kümmern, die sie selbst nicht betreffen. Sobald es aber um Probleme ginge, die Folgen für das eigene Leben haben, denke man gründlicher darüber nach. Genau in die Position will Generation Nomination den Bürger und mit ihm das politische System bringen.
Quelle: Sputnik (Deutschland)