Sozialwissenschaftler Prof. Sonntag im Interview: Fußball-EM trägt zur gefühlten Integration bei, löst aber keine Probleme
Archivmeldung vom 10.06.2016
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEr ist Sozialwissenschaftler, Fußball-Experte und lebt an der Loire: Der Deutsche Prof. Albrecht Sonntag bedauert, dass die Terrorangst bisher die Vorfreude auf die EM erstickte. Und er warnt vor überzogenen Erwartungen, die EM könnte einen Aufschwung oder eine bessere Integration anstoßen. Prof. Sonntag: "Fußball kann positiv auf Gesellschaften einwirken, aber keine Probleme lösen."
Brennende Barrikaden, Schlangen an Tankstellen: Findet die Europameisterschaft in einem Land des Stillstands statt? Prof. Albrecht Sonntag: Frankreich leidet derzeit unter tiefgreifenden Sozialkonflikten. Das hat strukturelle und aktuelle Gründe. Zum einen ist eine EM eine perfekte Gelegenheit für Gewerkschaften, die Regierung unter Druck zu setzen. Während sich Frankreich als modernes, leistungsfähiges Land präsentieren möchte, bekommen die Gewerkschaften als Party-Störer mehr Gehör. Hatten sie anfangs mit ihrer Opposition gegen die Arbeitsmarktreform noch eine akzeptable Motivation, haben sie sich mittlerweile aber ideologisch verstiegen. In Frankreich sind die Gewerkschaften anders als in Deutschland branchenübergreifend nach ihrer ideologischen Ausrichtung organisiert, was sie in eine Art Überbietungswettbewerb treibt. Zum anderen ist die Fünfte Republik eine wahre Zwangsjacke für die französische Gesellschaft. Ihre konstitutionelle Verfassung wurde 1958 ad hoc für Charles de Gaulle maßgeschneidert, damit dieser den Algerienkrieg beendet. Keiner seiner Nachfolger vermag seine Rolle auszufüllen. Eine der katastrophalen Folgen dieser Schieflage in der Verfassungswirklichkeit ist, dass die Wahlkämpfe ausschließlich auf das Präsidentenamt zugeschnitten sind und sich daher in Schwarz-Weiß-Malerei verlieren. So werden jedes Mal unrealistische Erwartungshaltungen geschürt, die sich in den folgenden fünf Jahren in Frustrationswellen über dem Land entladen. Akut schaukeln sich beide Ursachen hoch.
Hinzu kommt die Angst vor dschihadistischem Terror und dem erstarkenden Front National. Können Tore Terror und Tränengas vergessen machen? Prof. Sonntag: Nein, natürlich nicht. Ein Fußball-Großereignis ist für unsere immer tiefer gespaltenen westeuropäischen Gesellschaften lediglich eine willkommene Auszeit. Es ist eine nette Gelegenheit, sich auf das Gemeinsame zu besinnen - die dann aber oft symbolisch überladen wird. Fußball trägt etwas zur Gesellschaft bei, löst aber nicht ihre Probleme.
Bisweilen kann der Fußball aber ein Katalysator sein. Beispiel Bern 1954: Den Deutschen erwuchs neues Selbstbewusstsein, in Ungarn steigerte sich nach der überraschenden Filialniederlage der Wunderelf der Verdruss am Sozialismus bis hin zum Volksaufstand zwei Jahre später. Wäre ein vergleichbar mächtiger Nachhall heute auch noch möglich? Prof. Sonntag: Nein, das glaube ich nicht. Fußball kann in positiver Weise auf die Gesellschaft einwirken. Ein Beispiel wäre das deutsche Sommermärchen 2006, als sich die Bundesrepublik mit ihren Symbolen versöhnte. Ein anderes Beispiel ist das französische Sommermärchen von 1998, als ein Präzendenzfall geschaffen wurde, an den man sich gern erinnert. Diese Beiträge erhöhen die Solidität des gesellschaftlichen Gefüges, mehr aber auch nicht. Zudem halte ich die viel beschworene "Wir-sind-wieder-wer-Mentalität" von 1954 für eine nachträgliche Zuschreibung der Historiker in den 80er- und 90er-Jahren. Ebenso führt von der Niederlage der ungarischen Wunder-Elf keine direkte Linie zum Volksaufstand. Als Gegenbeispiel könnte Brasilien herangezogen werden, das bei der WM ein echtes Trauma erlitten hat. Dennoch wurde Dilma Rousseff ein Jahr später wiedergewählt. Aus dem Amt gedrängt wird sie erst jetzt im Rahmen eines reinen politischen Machtkampfs - ohne jeden Bezug zum Fußball.
Was, wenn sich der Fußball eine Bedeutung zuschreibt, die er gar nicht hat? So bürdete sich die brasilianische Mannschaft bei der WM bewusst soziale und politische Verantwortung für ihr taumelndes Land auf - und zerbrach daran im Halbfinale gegen Deutschland. Werden Sportler überfordert, wenn man mehr von ihnen erwartet als Tore? Prof. Sonntag: Die Erwartungshaltungen vor allem an Nationalmannschaften sind heute unglaublich überzogen. Das liegt an ihrer erstaunlichen Symbolkraft, die noch durch die permanente Medienpräsenz überhöht wird. Gerade in Krisensituationen sehen Gesellschaften ihre Sehnsucht nach Einheit kurzfristig in diesen Mannschaften verwirklicht. Ob die Brasilianer im Halbfinale an dieser geschürten Erwartungshaltung zerbrachen, ist spekulativ. Als Heimmannschaft war der Erfolgserwartungsdruck innerhalb des Teams ohnehin schon sehr hoch.
1998 wurde das Team um Zinedine Zidane als Musterbeispiel gelungener Integration gefeiert - und gerade deshalb vom Front National angefeindet. Werden Migranten nur gern im Strafraum gesehen, aber nicht, wenn sie den Arbeitsplatz bedrohen? Prof. Sonntag: Vorweg muss man sagen, dass der Migrant in der anderthalb Jahrhunderte währenden Migrationsgeschichte Frankreichs vor allem Arbeitsplätze geschaffen und nicht bedroht hat. 1998 wurde mit dem Feiern der ethnisch gemischten Mannschaft vor allem das eigene Wunschbild gestärkt. Man projizierte in dieses Siegerteam hinein, wie man als Gesellschaft gerne wäre. Es ist ja auch legitim, sich verschworen und harmonisch über die Kulturgrenzen hinweg zu wünschen. Dass die Wirklichkeit nicht diesem Ideal entsprach, war wohl auch den Feiernden unterbewusst klar. Die Zusammensetzung einer Nationalmannschaft sagt nichts über das Zusammenleben im Volk aus, sondern nur über das geltende Staatsbürgerrecht und die Chancen, die Migranten offenstehen. Das ist auch in Deutschland erkennbar, wo sich die Gesellschaft am Flüchtlingsproblem aufreibt, während die Löw-Elf ihren Multikulti-Weg ruhig weitergeht.
Karim Benzema sagte, er ist für alle Franzose, wenn er trifft, wenn nicht sei er Araber. Nun wirft er den Sportfunktionären wegen seiner Ausbootung sogar Rassismus vor. Werden die muslimischen Spieler in Frankreich kritischer gesehen? Prof. Sonntag: Eine delikate Frage. Die Nichtberücksichtigung Benzemas resultiert aus der politischen Entscheidung, dass ein Spieler, gegen den ein Strafverfahren läuft, nicht die Nation vertreten kann. Didier Deschamps wählt seine Spieler in der Tradition von Aimé Jacquet stark nach der Sozialkompetenz aus. Das war im Vorfeld von 1998 wichtig, als exzellente Spieler wie Éric Cantona und David Ginola aussortiert wurden, während sie in England gefeiert wurden. Aber sie hätten nicht in das Sozialgefüge gepasst, das Jacquet vorschwebte. Und so verhält es sich auch mit Benzema. Deschamps rassistische Motive zu unterstellen, ist einfach dumm. Dass Hatem Ben Arfa trotz einer hervorragenden Saison in Nizza aussortiert wurde, hat sicherlich sportliche Gründe, zumal Deschamps und Ben Arfa sich aus Marseille kennen. Auf der anderen Seite möchte ich nicht von der Hand weisen, dass Spieler nordafrikanischer Herkunft stärker als andere beweisen müssen, dass sie sich mit der Republik identifizieren. Man darf schon nach unterschwelligem, institutionellem Rassismus fragen angesichts des Phänomens, dass Fußball in den Vorstadt-Wohnblöcken zwar eine extrem große Rolle spielt, dass aber nur vergleichsweise wenige der vielen Talente den Sprung in den Profi-Bereich oder gar auf die Trainerbank schaffen. Das Perfide am institutionellen Rassismus ist, dass er den Handelnden als Grundlage ihres Handelns nicht bewusst ist.
Deutschland diskutiert derzeit anhand der Attacken von AfD-Vize Alexander Gauland eher über offenen völkischen Rassismus. Ließe sich ein Erfolg der multikulturellen deutschen Elf ummünzen in Rückenwind für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin? Prof. Sonntag: Ich denke, dass die Wähler schon sehr genau unterscheiden zwischen dem Geschehen im Stadion und der ganz anderen Dimension der Flüchtlingskrise. Unsere Fußball-Forschung der letzten Jahre hat ergeben, dass eine große Mehrheit der Bürger in Westeuropa multikulturelle Nationalmannschaften als positiv empfindet und in Spielern mit Migrationshintergrund, die es in die Nationalelf geschafft haben, wichtige Vorbilder für die soziale Integration sieht. Anderseits hat das Flüchtlingsproblem eine andere Dimension. Der Fußball trägt zu einer gefühlten Integration bei, aber er kann nicht dafür sorgen, dass sich eine Million Flüchtlinge integrieren. An der Bereitschaft zum Teilen - oder ihrem Fehlen - wird der Fußball nichts ändern. Angesichts der heutigen Akzeptanz der Weltmeistermannschaft wird leicht vergessen, dass es noch 2012 befremdliche Kritik am Nicht-Mitsingen der Nationalhymne durch einige Spieler gab. Das Pendel kann jederzeit zurückschlagen.
Sportgroßveranstaltungen zehren auch vom Mythos des Völkerverbindenden. Boden-Luft-Raketen gegen Attacken aus der Luft, Soldaten in den Straßen: Verdrängt in Zeiten des Terrors der Ausnahmezustand, der in Frankreich eigens verlängert wurde, den Mythos? Prof. Sonntag: Ich würde einen Unterschied machen zwischen dem völkerverbindenden Charakter großer Fußballturniere und der Freude daran. Das Völkerverbindende bleibt: Fans, die sich verbrüdern oder sich lustig machen über die eigenen, nationalen Stereotypen wirken in dieser Zeit sogar noch völkerverbindender. Fußball lässt auch Menschen die Nachbarvölker kennenlernen, die keine Erasmus-Studenten sind. Aber die Vorfreude auf die EM, die ausgelassene Partystimmung ist noch nicht spürbar.
Quelle: Das Interview führte Joachim Zießler - Landeszeitung Lüneburg (ots)