Prof. Geißler: Welchen Sinn hat die Zeitumstellung heute noch?
Archivmeldung vom 23.10.2006
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Freigeschaltet durch Jens BrehlAm 29. Oktober wird um 03.00 Uhr die Uhr um eine Stunde zurückgestellt und von der Sommer- auf die Winterzeit umgestellt. Der Zeitforscher und Professor an der Universität der Bundeswehr München, Karlheinz Geißler steht dieser Prozedur skeptisch gegenüber:
Jedes Jahr die gleiche Prozedur: Im Frühjahr wird uns eine Stunde genommen und
im Herbst wird sie uns wieder zurückgegeben. Das stimmt natürlich nicht.
Genommen wird uns gar nichts und geschenkt bekommen wir ebenso wenig. Wir
manipulieren, denn wenn wir die Sommerzeit einführen und rückgängig machen,
ändern wir zwar die Uhrzeiger aber nicht die Zeit. Da wir aber die Uhr so gerne
mit der Zeit verwechseln, zumindest hat man uns dies beigebracht, erfreuen wir
uns an der Illusion, wir Menschen wären Herren der Zeit, wir könnten über ihren
Gang bestimmen, wir könnten sie sparen und die gesparte Zeit später dann leben.
Dies ist und bleibt ein Wunsch, ein nicht allzu frommer dazu. Zeit lässt sich
entgegen allen Versprechen nicht sparen, sie lässt sich nicht schneller machen,
nicht verschenken und auch nicht umstellen. Warum auch? Es gibt nämlich,
entgegen anderslautenden Parolen, genug Zeit. Stündlich und täglich kommt neue
nach. Was aber machen wir dann eigentlich im Frühjahr und im Herbst? Und warum
tun wir das?
Früher gab es einen Anlass für die Einführung der
Sommerzeit. Erstmalig geschah es 1916, also während des Ersten Weltkrieges. Zum
zweiten Mal hat sich das Hitlerregime, ebenso in Kriegszeiten (1940), an den
Zeigern der Uhren zu schaffen gemacht, und Anfang der Siebziger (1973), im
Gefolge der Ölkrise, hat man dann erneut die Standardzeit durch die Sommerzeit
unterbrochen. Immer geschah dies mit der Absicht, Energie, speziell Strom, zu
sparen. Diesen drei Ereignissen ist gemeinsam, dass sie in Krisenzeiten
stattfanden. Die Krise war der Anlass für die Uhrzeitmanipulation. Die
Uhrumstellung war demnach ein staatliches
Kriseninterventionsinstrument.
Welche Krise aber wird heutzutage
bewältigt? Erwünschte Energiesparmaßnahmen, wie immer wieder behauptet aber
selten belegt, sind es nicht. Zumal die inzwischen weitgehend privatisierte
Energiewirtschaft eher an einem höheren Stromverbrauch interessiert ist, als an
dessen Einsparung. Was aber ist dann der Grund für die Zeitmanipulationen, die
uns zweimal im Jahr unruhig schlafen lassen? Regierungsamtlich wird keiner
verlautbart. Die Verantwortung dafür wurde inzwischen auch zum Europäischen
Parlament nach Straßburg bzw. Brüssel abgeschoben. Von dort aber hört man auch
kein überzeugendes Argument. Zur Krisenintervention kann diese "Zeitstörung"
schon deshalb nicht dienen, weil die Befristung der Sommerzeit seit 2002 nach
der "Neunten Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Januar
2001", aufgehoben wurde.
Der Stundenklau im Frühjahr und das herbstliche
Stundengeschenk werden damit zur unendlichen Geschichte. Jedes Jahr also der
gleiche Ablauf - bereits dies belegt, dass die Uhrumstellung kein Krisensymptom
mehr ist, ansonsten lebten wir ja in der Dauerkrise. Also wieder mal so eine
politische Entscheidung, nach deren Grund man vergeblich sucht. Was also spricht
dagegen, sich selbst einen Grund zu suchen? Soviel Freiheit erhält man nur
selten geschenkt. Für all jene aber, die keinen finden, ein Angebot: Am Ende der
Sommerzeit, jedes Jahr am letzten Oktoberwochenende, bekommt die Zeit, die uns
so treu bis zu diesem Termin begleitet hat, eine Stunde lang Zeit um sich
endlich mal auszuruhen. In dieser Stunde tritt sie auf der Stelle, entspannt
sich von den vielen Anstrengungen und freut sich, dass sie nach einer Stunde
wieder gehen kann. Dann darf man ihr zuschauen, das Beste was man machen
kann.
Also vergessen wir die Uhr in dieser Stunde, sie geht sowieso
falsch!
Quelle: Pressemitteilung Universität der Bundeswehr München