Schweres Sicherheitsproblem in acht Atomkraftwerken: Leck im Kühlkreislauf kann zur Katastrophe führen
Archivmeldung vom 05.10.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVor dem Hintergrund der Diskussion über Laufzeitverlängerungen deutscher Atomkraftwerke holt die Stromkonzerne ein ungelöstes Sicherheitsproblem ein, von dem vor allem Druckwasserreaktoren betroffen sind. Über das so genannte "Sumpfsiebproblem" hatte im Juli erstmals das von der Deutschen Umwelthilfe e. V. (DUH) herausgegebene Umweltmagazin zeo2 berichtet.
Danach ist die Kühlung des Reaktorkerns bedroht, wenn nach einem Leck im Kühlkreislauf abgetrenntes faserförmiges Isoliermaterial die Notkühlpumpen verstopft oder direkt die ordnungsgemäße Kühlung des Reaktorkerns be- oder schlimmstenfalls verhindert. Damit besteht bei einem solchen Störfall das Risiko einer Kernschmelze mit verheerenden Folgen.
In jetzt bekanntgewordenen Schreiben hat das Bundesumweltministerium die Länder ultimativ aufgefordert, bis zum 9. Oktober darzulegen, wie die Störfallbeherrschung bei einem Kühlmittelverlust gewährleistet werden soll und warum die Atomaufsichtsbehörden der Länder derzeit den Weiterbetrieb der betroffenen Atomkraftwerke trotz Sicherheitsmängeln dulden. http://www.umweltministerium.de/atomenergie_sicherheit/doc/45002.php
"Während in den heute beginnenden Koalitionsgesprächen über Laufzeitverlängerungen für angeblich sichere Atomkraftwerke verhandelt wird, zeigt sich, dass bei acht Reaktoren der Nachweis einer Störfallbeherrschung fehlt", kritisierte Rainer Baake, Bundesgeschäftsführer der DUH. "Wir fordern die sofortige Stilllegung aller Reaktoren, bei denen ein Leck in einer Kühlmittelleitung zur Katastrophe führen kann!"
Bereits im März dieses Jahres hatte das Bundesumweltministerium (BMU) die Atomaufsichtsbehörden der fünf Bundesländer, in denen Druckwasserreaktoren betrieben werden, zum Handeln aufgefordert, nachdem die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) der Bundesregierung im Dezember 2008 erklärt hatte, der Sicherheitsnachweis für den Sumpfsiebstörfall sei nicht geführt. Entweder sollten die Länder die jeweiligen Reaktorbetreiber veranlassen, die Beherrschbarkeit eines solchen Störfalls nachzuweisen oder aber selbst zu begründen, warum sie den Nachweis für die Reaktoren in ihrem Zuständigkeitsbereich bereits für erbracht halten. Baden-Württemberg, Bayern und Schleswig-Holstein gaben daraufhin einen entsprechenden Bericht ab, Niedersachsen folgte, nachdem das Bundesumweltministerium den dortigen Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) mit einer "bundesaufsichtlichen Weisung" dazu zwang. Die hessische Atomaufsicht erklärte, der entsprechende Nachweis für Block B des Atomkraftwerks Biblis liege nicht vor. Der Konzern habe Nachrüstungsmaßnahmen zugesagt. Der Reaktor ging deshalb nach einer Revision bis heute nicht wieder ans Netz.
Baake erinnerte daran, dass führende Politiker aus Union und FDP in den vergangenen Tagen erklärt hatten, dass eine Laufzeitverlängerung nur für solche Atomkraftwerke angestrebt werde, über deren Sicherheit keine Zweifel bestünden. "An der Frage der Sumpfsieb-Problematik und anderen aktuellen Sicherheitsproblemen, wie etwa dem nicht vorhandenen Schutz von sieben Altanlagen gegenüber terroristischen Angriffen aus der Luft, wird sich zeigen, wie viel diese Versprechungen wert sind", sagte Baake. "Wir werden mit Argusaugen beobachten, ob die neue Koalition dem Krümmel-Betreiber Vattenfall nach der endlosen Pannenserie die atomrechtliche Zuverlässigkeit bescheinigt." Maßstab für die Sicherheit von Atomkraftwerken sei in Deutschland der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik bei der Schadensvorsorge. Baake: "Bei konsequenter Anwendung des geltenden Atomrechts darf keine Anlage weiterlaufen, bei der die Experten der Bundesregierung ernsthafte Zweifel an der Beherrschung eines Störfalls haben". Genau das sei aber bei der Sumpfsiebproblematik der Fall.
Das Sumpfsiebproblem (siehe www.zeozwei.de, zeo2, Ausgabe 3/2009) entsteht, wenn bei einem Leck im Kühlkreislauf eines AKW der herausschießende Wasserstrahl faserförmiges Isoliermaterial von angrenzenden Rohrleitungen trennt und dieses Material später die Ansaugsiebe von Notkühlpumpen verstopft, die nach einem Leckstörfall die Reaktorkühlung sicherstellen sollen. Ein solcher Unfall hatte 1992 fast zu einer Katastrophe im schwedischen AKW Barsebäck geführt. Lange Zeit gingen Betreiber und Behörden davon aus, das Problem mit Konstruktionsänderungen an den Sieben in den Griff bekommen zu haben. Erst Experimente an einem Teststand des früheren Siemens-Standorts Erlangen, die der Reaktorbauer Areva im Auftrag der Reaktorbetreiber durchführte, ergaben das Gegenteil. Aktuell soll das Problem, dadurch gelöst werden, dass bei einer Siebverstopfung die Pumprichtung kurzfristig umgekehrt wird, um das Sieb zu reinigen. Nach Recherchen der DUH halten Reaktorexperten diese so genannte "Rückspülung" für hochriskant, weil in dieser Zeit die aktive Kühlung des Reaktorkerns teilweise unterbrochen werden muss. "Die Rückspülung ist ein Spiel mit dem Feuer zu einem Zeitpunkt, zu dem es ohnehin schon lichterloh brennt", sagte Gerd Rosenkranz, der Leiter Politik und Presse der DUH. Man versuche die Kühlung mit einer Maßnahme sicherzustellen, die sie selbst wieder in Frage stellt. "Wehe, wenn die Umkehrung der Pumpenrichtung in die ursprüngliche Richtung nicht funktioniert".
Außerdem werde mit einer möglicherweise mehrfach wiederholten Rückspülung ein anderes Problem verschärft, für das die Methode ohnehin keine Lösung darstelle. Bei den Experimenten in der Erlanger Testeinrichtung hatte sich nämlich gezeigt, dass feinstes Fasermaterial durch die Siebe nicht vollständig aufgehalten werden kann und so direkt in den Reaktorkern gelangt. Dort setzt es sich an den Halterungen für die Brennelemente ab, bildet eine Art Filz und behindert die Kühlung von Teilbereichen des Reaktorkerns. "Der wiederholte Rückspülvorgang kann dazu führen, dass in mehreren Schüben mehr feine Fasern in den Reaktorkern gelangen und sich so das Risiko der Überhitzung und schließlich einer Schmelze von Teilen des Kerns erhöht", erläuterte Rosenkranz.
Quelle: DUH