Noten vor und nach Schulreformen: Vergleich von Äpfeln mit Birnen
Archivmeldung vom 29.11.2019
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtOberstufenreformen können die Vergleichbarkeit von Schulnoten vor und nach der Reform erschweren. Dies zeigen Wissenschaftler der Universität Tübingen, der Pädagogischen Hochschule St. Gallen und vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt in einer Studie.
Sie verglichen die Mathematik- und Englischnoten von Oberstufenschülerinnen und -schülern mit deren Leistungen, die anhand standardisierter Tests ermittelt wurden – vor und nach Oberstufenreformen in Baden-Württemberg und Thüringen. Die Ergebnisse zeigen: Ändert sich im Zuge einer Reform die leistungsbezogene Zusammensetzung von Kursen, beispielsweise durch die Einführung oder Abschaffung von obligatorischen Kernfächern, erhalten Schülerinnen und Schüler trotz gleicher Leistungen andere Noten als in den Kursen vor der Reform. Die Ergebnisse sind im Journal of Educational Psychology erschienen.
Oberstufenschülerinnen und - schüler können in diesem Schuljahr in den meisten Bundesländern wieder zwischen Grund- und Leistungskursen wählen. Müssen nur zwei Leistungskurse belegt werden, werden diese mindestens fünf Stunden pro Woche unterrichtet, stehen mehr als zwei Leistungskurse zur Auswahl, müssen sie mindestens vierstündig unterrichtet werden. Damit setzen die Länder einen Beschluss der Kultusministerkonferenz um, um die Abiturnoten in Deutschland vergleichbarer zu machen.
Für die Studie wurden die Oberstufennoten sowie die Leistungen in standardisierten Tests in Mathematik und Englisch von insgesamt rund 7.800 Schülerinnen und Schülern vor und nach den Oberstufenreformen in Baden-Württemberg (2002) und in Thüringen (2010) herangezogen. Vor den Reformen konnten diese zwischen Grund- und Leistungskursen wählen, die zwei bis vier bzw. fünf oder sechs Stunden pro Woche unterrichtet wurden. Nach den Reformen mussten in beiden Bundesländern Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache als Kernfächer mit jeweils vier Wochenstunden belegt werden.
Erwartungsgemäß schnitten Schülerinnen und Schüler mit besseren Noten auch in den Leistungstests besser ab. Allerdings zeigten sich bei Schülerinnen und Schülern, die in einem Kurs die gleichen Noten erhalten hatten, erstaunliche Leistungsunterschiede, je nachdem ob sie – wie vor der Reform - ein Fach als Grund- oder Leistungskurs oder – wie nach der Reform - ein Fach als Kernfach belegt hatten. So erreichten Schülerinnen und Schüler aus dem Grundkurs vor der Oberstufenreform weniger Punkte im Leistungstest als diejenigen im Kernfach nach der Oberstufenreform. Analog dazu waren Schülerinnen und Schüler, die vor der Reform den Leistungskurs besucht hatten, im Leistungstest besser als diejenigen aus dem Kernfach. Die Leistungsunterschiede bei gleicher Note fanden sich in Baden-Württemberg für Mathematik und Englisch und ließen sich auch für Mathematik und teilweise für Englisch in Thüringen nachweisen.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Reformen, die die leistungsbezogene Zusammensetzung von Schülerinnen und Schülern in Kursen der Sekundarstufe II verändern, auch die von Lehrkräften vergebenen Noten verändern können. Das liegt besonders daran, dass Lehrkräfte häufig die Leistungen innerhalb einer Klasse oder eines Kurses miteinander vergleichen. Sind diese eher hoch, wie in einem Leistungskurs, erhalten durchschnittliche Schülerinnen und Schüler schwerer eine gute Note als in einem leistungsschwächeren Kurs. Deshalb ist es nicht nur schwierig, die Noten zwischen Bundesländern mit unterschiedlichen Oberstufensystemen zu vergleichen, sondern auch die Noten innerhalb eines Bundeslandes, besonders vor und nach Oberstufenreformen.
Die erschwerte Vergleichbarkeit hat Folgen für die Selektionsfunktion von Oberstufennoten, besonders bei der Vergabe von Studienplätzen oder bei Bewerbungen um Ausbildungsplatz oder Job. Denn hier werden einzelne Fachnoten, beispielsweise in Mathematik, oft als zentrales Kriterium zur Beurteilung des Leistungspotenzials herangezogen. „Wie die Studie zeigt, haben Bewerberinnen und Bewerber mit einer identischen Note in Mathematik nicht unbedingt die gleichen Kenntnisse in Mathematik. Dass auch strukturelle Veränderungen im Schulsystem diesen Zusammenhang systematisch beeinflussen können, ist bisher weitgehend ignoriert worden“, sagt Dr. Nicolas Hübner, Erstautor der Studie. Diejenigen, die die Personalauswahl treffen, müssten sich dieser Problematik bewusst sein. „Da Reformen die Bedeutung von Noten verändern können, sollten derartige Reformeffekte zukünftig routinemäßig untersucht werden. Darüber hinaus sollten Möglichkeiten zur stärkeren Standardisierung von Benotungsprozessen diskutiert werden“, so Hübner.
Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen (idw)