Welt retten bedeutet, im Kleinen anzufangen
Archivmeldung vom 14.09.2012
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtProf. Dr. Michael Corsten, Sozialwissenschaftler an der Stiftung Universität Hildesheim, erforscht, welche Akteure sich aktiv in die Gesellschaft einbringen und wer sich zurückzieht. In „sozialmoralischen Landkarten" zeichnen die Forscher der Universitäten Hildesheim und Jena das Engagement oder Nicht-Engagement der Bürgerinnen und Bürger spätmoderner Gesellschaften nach. Ein Gespräch über die „Weltretter“.
- „Arbeiten ohne Geld" – was treibt Menschen an, die nach dem Feierabend oder am Wochenende „die Welt retten"?
Corsten: Etwa ein Drittel der Bevölkerung über 14 Jahre engagiert sich freiwillig, unentgeltlich und regelmäßig für ein öffentlich bedeutsames Anliegen – ob Schülerhausaufgabenhilfe, Sportkurse für Kinder und Jugendliche, im Einsatz in der Ortsheimatpflege, in Jugendhäusern, als Schöffe im Gericht. So vielfältig wie die Engagementtätigkeiten sind auch die Motive. Im Kern geht es den Engagierten darum, sich für die gemeinsamen Belange in einem konkreten Projekt vor Ort einzusetzen und damit im eigenen Alltag ein Stück Gemeinsinn zu leben. Die Welt retten bedeutet ganz konkret im Kleinen damit anzufangen, einen Beitrag zu leisten.
- Und wer sind „die" Engagierten und Nicht-Engagierten?
Corsten: Engagierte Bürgerinnen und Bürger kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Milieus. Das Engagement älterer Bürger hat zugenommen. Wer schon im Verein ist, bei dem steigen die Chancen, dass sie oder er sich freiwillig engagiert. Auch spielt Zeitmangel kaum eine Rolle. Vielfach finden wir ein „More-More-Prinzip". Wer sich bereits in einer Initiative engagiert, wird oftmals wieder angesprochen, ob er nicht weitere Ehrenämter aufgreifen kann.
Weniger Engagement findet man in Großstädten und bei Menschen in prekären Erwerbspositionen (Arbeitslosigkeit, befristete Beschäftigung).
- Welche Faktoren begünstigen bürgerschaftliches Engagement?
Corsten: Die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement hängt eng mit den sinkenden sozialen Netzwerken im Umfeld einer Person zusammen. Auf dem Land oder in kleineren Städten besitzen Menschen mehr soziale Beziehungen (Familie, Freunde, Bekannte) – auch eine stabile Berufstätigkeit stärkt den sozialen Zusammenhalt. In Städten und in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen sinkt der soziale Zusammenhalt und darüber die Neigung, sich für andere einzusetzen.
- Können Bürgerstiftungen Ausgangspunkte für vernetztes Engagement in einer Region sein? Wie wichtig sind Strukturen und Organisationen, die ehrenamtliche Arbeit koordinieren und neue Engagierte motivieren?
Corsten: Stiftungen sind in der Regel Ausdruck dafür, dass auch finanzstarke Akteure in einer Region bereit sind, einen Teil ihres Vermögens sozialen Projekten zur Verfügung zu stellen. Inwiefern soziale Projekte, die aus Stiftungen entstehen, dann weitere Akteure aus der Region zu freiwilligen Aktivitäten motivieren, hängt von der Passung der Inhalte zum Charakter und den Bedürfnissen einer Region ab, auch von den Strukturen, die dort existieren. Wie arbeiten (neue) Stiftungen mit Verbänden, Vereinen und Bürgerinitiativen zusammen? Erkennen Sie Trends oder stützen sie Projekte, die zwar äußerlich renommiert scheinen, aber letztlich doch eher „Auslaufmodelle“ sind? Wichtig ist das kulturelle Verständnis und Selbstbild einer Region. Wie verstehen sich die Förderer und Stifter als Bürger? Mit welchen Traditionen, kulturellen und sozialen Entwicklungen sehen sie sich verbunden? Wie nah sind sie den aktuellen Prozessen?
- Was sagt die Stiftungsdichte über das Engagement von Bürgern aus? In großen Städten wie Hannover kommen auf 100.000 Einwohner 58 Stiftungen, in Olden-burg 64– in Dresden nur 20. Welche regionalen Entwicklungen stellen sie fest?
Corsten: Genau das ist die Frage, die sich oben schon andeutete. Ist die Stiftungsdichte nur ein Ausdruck des ökonomischen Kapitals, das in einer Region für soziale Projekte aufgebracht werden kann oder zeigt sie, dass durch Stiftungen unterstützte Projekte auch an die kulturellen Entwicklungen einer Region anknüpfen und diese fördern können? Liegen deshalb automatisch „reiche“ Städte vorne in der Stiftungsdichte? Deckt sich die Stiftungsdichte etwa mit der Vereinsdichte einer Stadt? Dann müsste Göttingen weiter oben liegen. Der Schlüssel liegt in einer Wechselbeziehung. Die Region muss finanzstarke Akteure motivieren, sich an den lokalen Projekten zu beteiligen, umgekehrt bedarf es bei den Stiftern Akteure, die sich mit dem Verständnis der Region zu identifizieren vermögen.
- Sie erarbeiten derzeit mit Wissenschaftlern aus Jena „sozialmoralische Landkarten“. Was haben Sie herausgefunden?
Corsten: Mit den sozialmoralischen Landkarten wollen wir – das sind neben mir noch Prof. Hartmut Rosa, Dr. Michael Beetz und Torsten Winkler – erfassen, wie Menschen ihr Verhältnis zur Welt herstellen und erfahren. Ob sie sich eher als „in die Welt geworfen“ oder „von der Welt getragen“ ansehen. Es geht um die Frage, ob Menschen das Gefühl haben, dass sie Rückmeldungen erfahren, wenn sie etwas unternehmen. Zum Beispiel, wenn sie sich engagieren wollen. Dann macht es einen Unterschied, ob ich das Gefühl habe, dass die Welt um mich herum, sich gleichgültig verhält. Oder ob ich zuversichtlich bin, dass mein Tun etwas bewirkt. Menschen, die ein Resonanzgefühl zur Welt ausgebildet haben, sind eher motiviert, Aufgaben zu übernehmen, etwas für andere zu tun, usf.
- Engagement im Studium – wie steht es um die Engagement-Bereitschaft (und-Ausübung) der jungen Generation?
Corsten: Das Engagement der Studierenden ist laut Daten des Freiwilligensurveys zwischen 1999 und 2009 leicht gestiegen, von 40 auf 43%. Bei den älteren Studierenden (25 bis 29 Jahre) hat es deutlich zugenommen – von 36 auf 47%. Es wäre somit denkbar, dass die Studierenden in der Bachelorphase etwas weniger dazu neigen, ein Engagement auszuüben – immerhin sind es auch hier noch 40% im Jahr 2009. Außerdem zeigt sich ein Bildungseffekt: Gleichaltrige Jugendliche mit Berufsausbildung und in Erwerbstätigkeit engagieren sich nur zu ungefähr dreißig Prozent – auch Gymnasiasten im Alter 14 bis 19 engagieren sich mit über 40% deutlich stärker als Hauptschüler und Mittelschüler (unter 30%).
Quelle: Stiftung Universität Hildesheim (idw)