Intersexualität und Menschenrechte: Das "dritte Geschlecht" kämpft um seinen Platz
Archivmeldung vom 24.01.2013
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWer weder als Mädchen noch als Knabe zur Welt kommt, ist dem Druck ausgesetzt, sich einem Geschlecht zuweisen zu lassen. Heute wehren sich Intersexuelle gegen frühe chirurgische Eingriffe und hormonelle Behandlungen. Sie haben damit eine Debatte ausgelöst.
"Stellen Sie sich vor, dass die Hebamme nicht sagen kann, ob Ihr Kind ein Mädchen oder ein Junge ist, Sie nicht wissen, welchen Namen sie ihm geben, wie Sie die Geburt Ihren Freunden und dem Zivilstandsamt melden sollen: Das Kind ist mit dem Chromosom XY eines Jungen geboren worden, aber auch mit einer Gebärmutter, einem Penisansatz und einer übergroßen Klitoris." Das sind Karin Plattners Worte über ihre Hilflosigkeit nach der Geburt ihres ersten Kindes vor 13 Jahren. Hermaphroditismus, Scheinzwittertum, sexuelle Ambiguität, Intersexualität, Variation der sexuellen Entwicklung: Das sind die Ausdrücke, die für die Beschreibung des Phänomens verwendet werden, das laut der Interessenorganisation Accord Alliance bei mindestens einer von Tausend Geburten auftaucht.
Blaise Meyrat, Kinderchirurg am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) in Lausanne beschreibt es so: "Es ist ein Neugeborenes oder ein Jugendlicher, dessen Zustand eine direkte Geschlechtszuordnung nicht ermöglicht oder dessen Geschlecht nicht mit den inneren oder äusseren genitalen Organen übereinstimmt."
Das Geschlecht ist auch gesellschaftlich
Um sie ins binäre Zivilstands-System zu pressen, wurden zwischen 1950 und 1990 Geschlechtsoperationen und hormonelle Behandlungen an kleinen Kindern ausgeführt, obwohl ihre Intersexualität kein Gesundheitsrisiko darstellte. Man verlieh ihnen gewissermaßen ein gesellschaftliches Geschlecht. "Man war überzeugt, dass es für die Integration des Kindes in die Gesellschaft wichtig sei, und weil man den hilflosen Eltern eine schnelle Behandlung anbieten wollte. Später haben Studien ergeben, dass die Resultate der Eingriffe weder einfach noch zufriedenstellend waren", sagt Blaise Meyrat. Wenn das zugeordnete Geschlecht nicht dem mentalen entspricht und der Eingriff irreversibel ist, können Schäden entstehen. Karin Plattner hatte vor 13 Jahren eine Operation an ihrem Kind abgelehnt und dieses wie ein Mädchen aufwachsen lassen, bis es sich selber entscheiden würde. Das kann zwischen 6 Jahren und der Adoleszenz eintreffen. Daniela Truffer, Mitbegründerin des Vereins "Zwischengeschlecht", wurde als Mädchen im Alter von drei Monaten operiert. Das kommt häufig vor, weil der Eingriff als weniger riskant betrachtet wird. "Ich wurde kastriert. Ein Land, das sexuelle Verstümmlungen bestraft, sollte reine 'kosmetische' Eingriffe nicht mehr tolerieren. Trotz der Vorsichtsempfehlungen führen gewisse Ärzte solche Operationen weiterhin durch", entsetzt sich die 47-jährige Zürcherin, die sich für ein Recht auf physische Integrität engagiert. In den letzten Jahren sind immer mehr Ärzte – unter ihnen auch Blaise Meyrat – zur Überzeugung gelangt, dass auf eine unmittelbare Operation verzichtet werden sollte, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen nicht notwendig ist. "Man muss das größte Risiko bestimmen: in Bezug auf die somatische und die psychologische Gesundheit. Natürlich sind die Eltern unter Druck, aber eine Operation am Neugeborenen ist auch belastend, umso mehr als man mit mehreren Eingriffen rechnen muss."
Ein Menschenrecht
Infolge eines parlamentarischen Vorstoßes hat die Regierung die Nationale Ethikkommission (NEK) beauftragt, sich dem Problem anzunehmen. Diese hat im letzten Herbst Empfehlungen erlassen, die einen Richtungswechsel in Gang setzen: Danach sollen Entscheidungen über irreversible, geschlechtsbestimmende Eingriffe medizinischen statt Gesichtspunkten des äußeren Erscheinungsbildes folgen. "Alle nicht bagatellhaften, geschlechtsbestimmenden Behandlungsentscheide, die irreversible Folgen haben, aber aufschiebbar sind, sollen aus ethischen und rechtlichen Gründen erst dann getroffen werden, wenn die zu behandelnde Person selbst darüber entscheiden kann." Diese Empfehlung hat überrascht. Judith Wyttenbach, Vize-Direktorin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern, begrüßt "den Auftakt zu einer nationalen Debatte, die bisher von der Medizin dominiert worden war". "Die Menschenrechte gelten für alle", unterstreicht die Expertin für Öffentliches Recht. "Unser auf dem Geschlecht basierendes offizielles System ist unflexibel und lässt keinen Freiraum, wenn man weder Mann noch Frau ist." Sollte man – wie in Australien – ein "drittes Geschlecht" schaffen? Die Ethikkommission empfiehlt eher, dass "die Geschlechtsbestimmung bei der Geburt ohne bürokratische Hürden geändert werden kann".
Judith Wyttenbach würde sich zumindest die Erwähnung "unbestimmtes Geschlecht" wünschen, um die in der Gesellschaft verankerter Dichotomie "Mann-Frau" zu überwinden. "Die Reaktion auf eine Intersexualität muss ein Interessenausgleich zwischen Eltern und Kind sein", sagt die Juristin. "Das Kind hat ein Recht auf körperliche Integrität, und – wenn die Eltern berechtigt sind, Entscheide für das Kind zu treffen – dann müssen diese stets in dessen vermutetem kurz- und langfristigen Interesse sein." Positiv überrascht von den Empfehlungen der NEK ist Kinderchirurg Meyrat. Es brauche eine gewisse Zeit, bis "das Pendel auf die andere Seite schlägt", vermutet er. Deshalb spricht er sich für ein zwingendes Gesetz aus. "Es ist schade, dass man – mangels ethischer Klarheit in der Medizin – die Bestimmungen vom Gesetzgeber diktieren lassen muss. Aber meines Erachtens ist es die einzige Lösung."
Quelle: Text von Isabelle Eichenberger, swissinfo.ch (Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)