Die Jäger der verschollenen Briefe
Archivmeldung vom 23.08.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 23.08.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Oliver RandakWenn Briefe unzustellbar sind, schlägt die Stunde der Briefdetektive. Im Service-Center Briefermittlung versuchen über 100 Mitarbeiter der Post, verloren gegangene Briefe wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Dafür dürfen die Spezialisten sogar das Briefgeheimnis brechen.
Hier landen alle Postsendungen, die auf Irrwege geraten sind. Bis zu 16.000 Briefe täglich, wie Gerhard Schwarzer, Leiter der Abteilung Briefermittlung, sagt. Sie kommen aus den 82 regionalen Briefzentren der Post, wo sie - wie es im Postjargon heißt - als "unanbringlich" gekennzeichnet und nach Marburg weitergeleitet werden. Hier versuchen die Briefdetektive, die Post auf den rechten Weg zu bringen. Für die Suche nach einem verwertbaren Hinweis dürfen die Spezialisten das Briefgeheimnis brechen - ganz legal. Das macht das Marburger Postgebäude zu einem besonderen Ort. In den nur mit Zahlencodes zugänglichen Etagen hat absolute Verschwiegenheit oberste Priorität. "Was die Mitarbeiter lesen, müssen sie streng für sich behalten", sagt Schwarzer.
Die Verschwiegenheit fällt Anja Roth leicht
Anja Roth fällt die Diskretion leicht: "Das ist gar nicht so interessant, wie man denkt", sagt sie. Die Briefe lese sie ohnehin nur quer. "Da reichen zwei Blicke", sagt Roth während sie ein Schreiben aus einem Umschlag zieht. Es ist eine Einladung zu einem Klassentreffen, der Empfänger war nicht auffindbar. Verwertbare Hinweise stünden meist am Anfang oder Ende eines Briefes. "Wie hier, da steht die Anschrift des Absenders unter dem Text der Einladung", sagt Roth nach wenigen Sekunden. Sie steckt die Einladung in einen neuen Umschlag und klebt ein Etikett mit der Anschrift des Absenders darauf. "Das war einfach", sagt Roth.
Kniffelig
wird es, wenn auf den Umschlägen als Empfänger nur etwa "An den
Weihnachtsmann" oder "An Onkel So-und-so in Oldenburg" steht. Wenn sich
dann auch im Brief absolut keine Hinweise auf den Absender finden
lassen, kommt er ins Archiv. Bei mehr als 50 Prozent liegt die
Erfolgsquote der Adressen- Ermittler laut Schwarzer. "Jeder zweite
Brief, der zu uns kommt, erreicht also doch noch seinen Empfänger oder
kann zum Absender zurückgeschickt werden", sagt der 48-Jährige. "Und
dieser ganze Service ist für den Kunden kostenlos." Was er die Post
kostet, verrät das Unternehmen nicht. Bei mehr als 70 Millionen
Sendungen, die jeden Tag in Deutschland verschickt werden, komme nur
eine "wirklich kleine Zahl" an Irrläufern in Marburg an, sagt
Pressesprecher Alexander Böhm.
Ein Jahr lang wird alles aufgehoben
Die trotz Recherche unzustellbaren Briefe lagern im Archiv neben unzähligen Gegenständen, die aus Kuverts gepurzelt sind. "Es gibt nichts, was nicht verschickt wird", sagt Schwarzer: Von Armbanduhren über Chipkarten, Handys, Schlüssel bis hin zu Zahnprothesen - etwa 1500 Fundsachen fallen den Spürnasen jeden Tag in die Hände. Ein Jahr lang wird alles aufgehoben. Alle vier Monate werden die herrenlosen Gegenstände versteigert, die Briefe kommen in den Reißwolf.
Renate
Wagner, die seit mehr als zehn Jahren in der Marburger Stelle arbeitet,
überrascht nichts mehr. "Ich habe schon fast alles in die Hände
bekommen, auch Unterwäsche und Zahngold", sagt die 54-Jährige. Jeder
Gegenstand wird in eine Datenbank eingetragen, die jede Nacht mit
Kundenanfragen abgeglichen wird. "Das Schönste ist, wenn ich den
Besitzern helfen kann, ihre Sachen zurückzubekommen", sagt sie. So
manches rührende Dankesschreiben habe schon den Weg nach Marburg
gefunden - ganz ohne Nachhilfe.
Quelle:stern.de