Weiche Lkw-Nase kann Leben retten
Archivmeldung vom 10.05.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMehr als 1.400 Fußgänger und Fahrradfahrer kommen jedes Jahr in den EU-14-Staaten bei Lkw-Unfällen ums Leben. Viele von ihnen könnten noch am Leben sein, wären Lkw an der Front mit energieschluckenden Sicherheitsbügeln aus Schaumstoff, mit Pressluft gefüllten Kunststoffrohren oder einer konvexen Nase ausgestattet.
Solche Schutzeinrichtungen entstehen derzeit in den Labors der Unfallforscher des von der Europäischen Union geförderten Projekts APROSYS (Integrated Project on Advanced Protection Systems, www.aprosys.com). Bei einem Workshop im DEKRA Crash Test Center in Neumünster stellten Experten aus ganz Europa den aktuellen Stand der Arbeiten für einen erhöhten Schutz von Fußgängern und Radfahrern bei Kollisionen mit Lkw vor.
"Mit unseren aktuellen Konzepten zur Optimierung der Lkw-Front für einen verbesserten Schutz von Fußgängern und Fahrradfahrern legen wir viel versprechende Ansätze vor, die mit geringem Kostenaufwand zu dem im EU-Weißbuch formulierten Ziel beitragen können, die Zahl der Getöteten in Straßenverkehr um 50 Prozent zu verringern", erklärte Jürgen Gugler, Leiter des APROSYS-Teilprojektes 2.1. vom Institut für Fahrzeugsicherheit an der TU Graz. Ziel des Projektes ist es, Schutzeinrichtungen und Designverbesserungen für Lkw zu erforschen, die einen erhöhten Schutz von Fußgängern und Radfahrern bei Unfällen mit Trucks bieten. Bei Unfällen im Geschwindigkeitsbereich bis 15 km/h sollen Unfälle mit Überrollen schwacher Verkehrsteilnehmer durch verbesserte Sicht des Lkw-Fahrers nach vorn und zur Seite vermieden werden. Bei Unfällen mit 15 bis 40 km/h lautet die Aufgabe, den Aufprall am Fahrzeug und auf der Fahrbahn durch eine höhere Energieaufnahme und eine optimierte Form der Lkw-Front abzumildern.
Einen hohen Stellenwert für einen besseren Schutz von Fußgängern und Radfahrern besitzt die Entwicklung eines Sicherheitsindexes, der es möglich macht, den Sicherheitsstandard von Lkw in punkto Partnerschutz zu vergleichen und zu bewerten. Walter Niewöhner und Bernhard Schmitt aus der DEKRA Unfallforschung stellten einen ersten Entwurf für einen Index vor, der die Sicht des Lkw-Fahrers aus dem Lkw bewertet. Die Messziffer, ein von drei Teilen des Sicherheitsindexes für Lkw, berücksichtigt das direkte Sichtfeld des Fahrers durch die Scheiben und das indirekte Sichtfeld über Spiegel. Diese Bereiche werden von Faktoren beeinflusst wie der Höhe der Fensterunterkante, der Position der Augen des Fahrers sowie von Sichthindernissen wie A- und B-Säulen und Spiegeln. Das Bewertungsmodell definiert eine sehr wichtige innere und eine äußere Zone um den Lkw. Ein Schwerpunkt liegt auf der Beifahrerseite, da hier für Fußgänger und Radfahrer nach wie vor eine erhöhte Gefahr besteht, vom Lkw-Fahrer im toten Winkel übersehen zu werden.
Die Front herkömmlicher Lkw bietet zahlreiche Ansatzpunkte für eine verbesserte passive Sicherheit. Zu den vom Institut für Kraftfahrwesen (ika) an der RWTH Aachen vorgestellten neueren Lkw-Designkonzepten gehören beispielsweise die schlanke Fahrerkabine in der Mitte der Lkw-Front, die eine bessere Sicht des Fahrers nach vorn und zu den Seiten ermöglicht. Seitlich weit heruntergezogene Karosserieschürzen und Radabdeckungen könnten ein Unterfahren des Lkw-Aufbaus durch Radfahrer verhindern. Besseren Schutz bieten könnten auch energieabsorbierende Elemente an der Lkw-Front, hoch angebrachte energieschluckende Spiegel und Scheibenwischer, strukturierte A-Säulen, große Seitenfenster, seitliche LED-Warnleuchten und dem Lenkeinschlag folgende Radabdeckungen. In der Diskussion ist sogar ein Windschutzscheiben-Airbag, der sich beim Aufprall eines Fußgängers an der Lkw-Front entfaltet. Als effizienteste Konzepte für einen besseren Schutz von Fußgängern und Fahrradfahrern bei Lkw-Unfällen favorisieren die Forscher von APROSYS nach der Analyse der europäischen Unfalldaten jedoch
* die Verringerung der Steifigkeit der Lkw-Front (CRF)
* die Entwicklung eines verformbaren, adaptiven Frontgrills
(Polito)
* die Ablenkung durch eine stromlinienförmige Lkw-Front (ika).
Florian Feist von der Technischen Universität Graz, Roberto Puppini vom Centro Ricerche FIAT und das Polytechnikum Turin stellten beim Workshop in Neumünster verschiedene Varianten einer energieabsorbierenden Lkw-Front vor, die aus Sicherheitsbügeln aus nachgiebigen Schaumelementen oder mit Pressluft gefüllten Kunststoffschläuchen aufgebaut sind. Umfangreiche Simulationen und experimentelle Tests zeigten, dass bei Aufprallgeschwindigkeiten bis zu 40 km/h das Verletzungsrisiko an Kopf und den unteren Extremitäten um bis zu 70 Prozent verringert werden könnte. Die Studie macht zudem deutlich, dass sich die Belastung und die Verletzungsrisiken beim Erstanprall am Lkw bei geringem zusätzlichem Gewicht (20 bis 70 Kilogramm), niedrigen Materialkosten und wenig Mehrlänge (130 bis 200 Millimeter) beträchtlich reduziert werden können. Vorteil der beiden Konzepte: Die der Sicherheit dienenden "Kuhfänger" sind kompakt, leicht, kostengünstig und einfach nachrüstbar, ohne andere Fahrzeugfunktionen wie Licht, Kühlung, Wartung, Reparatur und Aerodynamik zu beeinträchtigen. Die Unfallforscher weisen jedoch darauf hin, dass, im Unterschied zum Personenwagen, Sicherheitsfeatures beim Lkw schwer zu verkaufen sind. Die Experten schlagen vor, die bestehenden Vorschriften zu Gewicht und Länge von Trucks zu erweitern, wenn das Fahrzeug mit Sicherheitselementen für den Partnerschutz ausgestattet ist. Die Anschaffung solcher Trucks mit Sicherheitsausstattung müsse zudem durch Steuervorteile, gesetzliche Vorschriften und Anerkennungstests gefördert werden.
Große Hoffnungen setzen die Unfallforscher auch in eine neuartige konvexe Lkw-Front. Die vom Institut für Kraftfahrwesen (ika) an der RWTH Aachen entwickelte Komponente könnte das Überrollrisiko für ungeschützter Verkehrsteilnehmer bei der Kollision mit Lkw erheblich verringern. Aufgabe der neuen stromlinienförmigen Lkw-Nase ist es, Fußgänger und Fahrradfahrer bei einem Unfall zur Seite abzulenken und sie so vor dem Überrollen zu bewahren. Bei rund 200 Simulationen am ika zeigte sich, dass die neue Lkw-Front die Überrollquote um 85 Prozent reduziert. Diese Lösung erwies sich bei Unfällen mit höherer Geschwindigkeit als besonders effektiv. Die zusätzliche Knautschzone verringert darüber hinaus die Anprallkräfte beim Erstanstoß, verbessert den Partnerschutz bei Pkw/Lkw-Unfällen und hat zudem einen positiven Einfluss auf die Aerodynamik.
Nach Erkenntnissen von José Manuel Barrios von Applus+IDIDA, Spanien, ist es möglich, den Sicherheitsstandard eines Lkw durch Kriterien zu beurteilen, die auch bei Pkw, zum Beispiel bei Vorschriften und Verbrauchertests, angewandt werden. Der praktikabelste Weg zur Einführung eines Testverfahrens für den Fußgängerschutz an Lkw sei die Einführung einer einfachen und nicht restriktiven Methode. Das Testverfahren müsse unter allen Umständen Verbesserungen und Neuentwicklungen ermöglichen. Der Sicherheitsindex habe zur Aufgabe, eine verständliche Vorstellung des Sicherheitsniveaus zu geben und Vergleiche zu ermöglichen.
Axel Malczyk und Jenö Bende aus der Unfallforschung der Versicherer im GDV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft) untersuchen bei Unfällen zwischen Nutzfahrzeugen und ungeschützten Verkehrsteilnehmern die typischen Merkmale von Verletzungen und wie sie in Realunfalldaten vorkommen. Die hohe Zahl der dokumentierten Unfälle lässt Schlussfolgerungen zu, allerdings ist nicht zu klären, ob die Zahlen repräsentativ sind. Den Auswertungen zufolge wird bei Anstößen, die sich nur vor der ersten Lkw-Achse ereignen, meist der Kopf verletzt. Beim Überrollen oder Überfahren können dagegen alle Körperteile betroffen sein. Bei Fußgängern ist in zwei Drittel der Fälle nur der Bereich vor der ersten Lkw-Achse betroffen.
Unfallanalysen von Tanya Smith, TRL, Großbritannien, bestätigten die Erkenntnis, dass Unfälle zwischen ungeschützten Verkehrsteilnehmern und schweren Nutzfahrzeugen zwar relativ selten sind, aber besonders schwerwiegende Unfallfolgen haben. In Österreich und Großbritannien entfallen weniger als 1 Prozent aller Unfälle auf diesen Unfalltypus, er führt aber zu mehr als 3 Prozent aller Todesfälle im Straßenverkehr. Die meisten Unfälle zwischen Lkw und Radfahrern ereignen sich beim Rechtsabbiegen eines Lkw und beim Überholen und Einscheren des Lkw nach rechts. Für Fußgänger besteht ein erhöhtes Unfallrisiko, wenn sie direkt vor einem Lkw die Straße überqueren oder sich bei einer Panne direkt neben dem fließenden Verkehr aufhalten. Unfallschwerpunkte sind die städtischen Bereiche. Ersten Schätzungen zufolge könnten bis zu einem Drittel der bei Lkw-Unfällen getöteten Fußgänger und Radfahrer durch verbesserte passive Sicherheitsmaßnahmen verhindert werden. Weitere Verbesserungen sind durch zusätzliche aktive Maßnahmen möglich. Eine Kombination von verbesserter aktiver und passiver Sicherheit, so eine Auswertung für Österreich, könnten den Schweregrad von annähernd 25 Prozent der tödlichen und schweren Verletzungen verringern.
Quelle: DEKRA e.V.