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Stiefeltern sind nicht immer böse

Archivmeldung vom 12.11.2013

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 12.11.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Bild: Rolf Handke / pixelio.de
Bild: Rolf Handke / pixelio.de

Anders als bisher geglaubt, behandeln Eltern Stiefkinder nicht prinzipiell schlechter als ihre eigenen. Bislang waren viele Forscher vom so genannten „Aschenputtel-Effekt“ ausgegangen: Demzufolge sorgen Eltern zwangsläufig schlechter für Stiefkinder, weil sie nicht ihre Gene verbreiten.

Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock entdeckten nun eine wichtige Ausnahme: Gibt es Aussicht auf steigenden Wohlstand im Lebensumfeld der Eltern, geht es dem fremden Nachwuchs genau so gut wie dem eigenen. Damit hängt die Fürsorge der Eltern von mehr ab als von der biologischen Verwandtschaft.

Das ergibt eine Studie, die der MPIDR-Forscher Kai Willführ zusammen mit Alain Gagnon von der Universität Montreal jetzt im Wissenschaftsjournal „Biodemography and Social Biology“ veröffentlicht hat.

„Wir konnten beweisen, dass der „Aschenputtel-Effekt“ kein unvermeidbarer Reflex von Stiefeltern ist“, sagt Kai Willführ. Ob und wie sehr die Eltern ihre Stiefkinder vernachlässigen, untersuchten die Forscher anhand der Sterblichkeit von Kindern in historischen Patchworkfamilien des 17. bis 19. Jahrhunderts. Sie verglichen die ostfriesische Region Krummhörn, die bereits stark bevölkert war und wenig Raum für wirtschaftliche Entwicklung bot, mit expandierenden Siedlungen in der heutigen kanadischen Provinz Québec. Für beide Regionen berechneten sie, wie sich die Überlebenschancen von Kindern änderten, wenn der Vater nach dem Tod der Mutter wieder heiratete.

Ergebnis: Nur in der Krummhörn, die wenig Perspektiven bot, hatte die Stiefmutter einen negativen Einfluss. Nur dort starben die Kinder aus erster Ehe des Vaters häufiger, wenn die Stiefmutter einzog. Der „Aschenputtel-Effekt“ scheint also nicht zwangsläufig überall durchzuschlagen. Die Stiefmütter müssen ihre Kinder in beiden Regionen völlig unterschiedlich behandelt haben.

Wann müssen Stiefkinder jung sterben?

Die Dimension des Effekts ist beachtlich: Verlor ein krummhörner Mädchen früh die Mutter, wuchs seine Wahrscheinlichkeit, den 15. Geburtstag nicht zu erleben, auf über das Doppelte des Risikos eines vergleichbaren Mädchens, dessen Mutter nicht starb. Heiratete der Vater wieder und die Stiefmutter zog ein, stieg die Sterblichkeit noch einmal ebenso stark. Der Einzug der Stiefmutter traf die Mädchen in Ostfriesland also genauso schlimm wie der Tod der eigenen Mutter. Im kanadischen Québec hingegen änderte sich das Sterberisiko der Stiefkinder fast gar nicht, wenn die neue Mutter kam.

„Die Stiefmütter in Québec schienen zu verstehen, dass die Kinder aus erster Ehe ihres Mannes den eigenen Kindern mit dem neuen Ehemann nicht im Weg stehen“, sagt MPIDR-Forscher Kai Willführ. Die kanadischen Halbgeschwister seien in der Expansionsphase der Besiedlung eher als Verbündete der leiblichen Kinder gesehen worden. Gemäß dem „Aschenputtel-Effekt“ hingegen würden Stiefeltern die fremden Kinder immer als Konkurrenz zu den eigenen sehen und sie hintanstellen.

Liebe zu Kindern ist Kalkül

So war es aber nur in der Krummhörn: Es gab eine starke Konkurrenz zwischen den Geschwistern um das Lebensnotwendigste. „Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass die Stiefmütter die Kinder ihres Mannes aus erster Ehe vernachlässigt, ausgebeutet oder gar misshandelt haben“, sagt Soziobiologe Willführ. Dass sich dieser Effekt eben nur in der Krummhörn zeigt, beweist: Der Kontext, in dem sich eine Patchworkfamilie befindet, kann das Kalkül, nach dem die Eltern ihre Liebe unter eigenen und fremden Kindern aufteilen, stark beeinflussen.

„Dass Stiefeltern nicht immer böse sind, gilt deswegen auch heute noch“, sagt Kai Willführ. Denn auch wenn die Sterblichkeitsdaten in seiner Studie historisch seien, hätten sie die ausschließliche Gültigkeit des „Aschenputtel-Effekts“ prinzipiell in Frage gestellt.

Für ihre Studie zeichneten Willführ und Gagnon die ersten 15 Lebensjahre von Tausenden Kindern aus Ostfriesland und Québec nach. Indem sie individuell nachvollzogen, ob und wann im Kinderleben ein Elternteil starb, Stiefmutter oder -vater einzogen und Halbgeschwister geboren wurden, konnten sie den Einfluss all dieser Ereignisse auf die Überlebenschancen der Mädchen und Jungen errechnen. Die Daten über Geburten, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen stammen vor allem aus alten Kirchenbüchern. Für das ostfriesische Krummhörn untersuchten die Forscher die Geburtsjahrgänge 1720 bis 1859, für Québec die Jahre 1670 bis 1750.

Quelle: Max-Planck-Institut für demografische Forschung (idw)

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