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Ist eine Glatze wirklich eine Glatze?

Archivmeldung vom 28.08.2014

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 28.08.2014 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Pawel Sickinger mit Animationen der Glatzenbildung am Computer: Der Linguist und Diplom-Übersetzer p
Quelle: (c) Foto: Volker Lannert/Uni Bonn (idw)
Pawel Sickinger mit Animationen der Glatzenbildung am Computer: Der Linguist und Diplom-Übersetzer p Quelle: (c) Foto: Volker Lannert/Uni Bonn (idw)

Zwei Menschen reden angeregt in einer Fremdsprache miteinander – aber meinen sie mit dem Gesagten wirklich das Gleiche? Diese grundlegende Frage treibt Linguisten seit langem um. Pawel Sickinger hat in seiner Promotion am Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie der Universität Bonn mit einem ungewöhnlichen Ansatz Antworten gefunden. Anhand von Bildern unterschiedlich ausgeprägter männlicher Glatzen vollzog er nach, dass es im Deutschen, Amerikanischen und Japanischen erstaunlich ähnliche Vorstellungen zum Beispiel vom Begriff „Geheimratsecken“ gibt.

Die Animation auf dem Bildschirm zeigt es in aller Deutlichkeit: Von der ursprünglichen Haarpracht des Mannes geht Stück für Stück verloren. Zuerst lichtet sich seitlich die Stirn, die kahlen Stellen weiten sich aus und greifen auf den Hinterkopf über. Der Haarausfall läuft im Zeitraffer, bis der Herr letztendlich völlig kahlköpfig ist. Hinter diesem Computer-Programm steht der Wissenschaftler Pawel Sickinger von der Universität Bonn, der damit Probanden für seine Doktorarbeit befragte.

Sickinger hat keinen Kahlkopf und ist kein Glatzenforscher, sondern Linguist und Diplom-Übersetzer. Für seine Dissertation untersuchte er, ob über verschiedene Kulturen und Sprachen hinweg von bestimmten Begriffen die gleichen Vorstellungen in den Köpfen existieren. Diese grundlegende Frage ist schwer zu beantworten, denn niemand kann den Menschen direkt in den Kopf schauen und dort die von den Gehirnzellen verarbeiteten Vorstellungen und Bilder aufzeichnen. Der Linguist geht von der These aus, dass zu jedem Begriff eine bestimmte Vorstellung existiert: „Die Sprache aktiviert Bilder im Gehirn von Menschen.“

Haarausfall bei Männern ist fast in allen Kulturen ein Thema

Für die Beantwortung der zentralen Frage, ob diese Bilder in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen vergleichbar sind, suchte der Linguist nach einem Phänomen, worüber im Deutschen, im amerikanischen Englisch und im Japanischen häufig gesprochen wird. „Da Haarausfall bei Männern so gut wie in fast jeder Kultur ein wichtiges Thema ist, bot es sich für diese Untersuchung an“, berichtet Sickinger, der bei Prof. Dr. Klaus P. Schneider vom Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie der Universität Bonn promovierte. Der Wissenschaftler programmierte die Animation mit dem kontinuierlich sich lichtenden Haupt. Die Probanden sollten zu den unterschiedlichen Stadien des Haarausfalls Begriffe in ihrer jeweiligen Sprache angeben.

Über soziale Medien und Bekannte verbreitete Sickinger seine Umfrage. Insgesamt nahmen 168 Probanden aus den USA, 169 aus Japan und 232 aus Deutschland an der Glatzenbefragung teil. Dabei ergaben sich zum Teil erstaunliche Übereinstimmungen: Die befragten Personen aus den drei verschiedenen Sprach- und Kulturkreisen ordneten ähnlichen Begriffen in ihrer Muttersprache fast die gleichen Bilder von der schwindenden Haarpracht des männlichen Hauptes zu.

Was zum Beispiel auf Deutsch als „Geheimratsecken“ bezeichnet wird, entspricht im Amerikanischen „widow’s peak“ (wörtlich: „Witwenspitze“) und im Japanischen „emu jigata hage – etwa soviel wie „M-Form-Glatze“. Der „Kahlkopf“ im Deutschen wird im Englischen „bald“ und im Japanischen „tsurutsuru atama“ genannt - glänzender oder rutschiger Kopf. Sickinger ordnete diese in den unterschiedlichen Sprachen verwendeten Begriffe für das jeweilige Stadium des Haarausfalls in Gruppen an. „Dabei zeigte sich, dass es klare Tendenzen gibt“, sagt der Linguist. In allen drei Sprachkulturen kristallisierten sich Begriffsgrenzen zwischen den eigentlich kontinuierlich verlaufenden Glatzenstadien heraus.

Sehr ähnliche Vorstellungen über die verschiedenen Glatzenstadien

Die Testpersonen waren sich zumindest mit großer Mehrheit einig, ab wann der Haarausfall beginnt und wo er in einen Kahlkopf mündet. Einen größeren Spielraum hinsichtlich der Üppigkeit des Resthaares räumten die Probanden zum Beispiel dem Begriff „eine Glatze bekommen“ ein: Manchen genügten erste kleine Verlichtungen, andere waren deutlich großzügiger und ließen eine Glatze erst bei einem deutlicheren Haarausfall beginnen.

„Bei vielen Begriffen zum Haarausfall zeigte sich, dass sehr ähnliche Vorstellungen über die Sprach- und Kulturgrenzen hinweg existieren“, sagt Sickinger. Der Wissenschaftler sieht damit seine grundlegende Frage zumindest teilweise beantwortet: Für bestimmte Begriffe existieren tatsächlich nahezu identische Vorstellungen im Deutschen, Amerikanischen und Japanischen. Sickinger: „Solche Wörter lassen sich also direkt in Begriffe ohne sprachliche Umschreibung übersetzen, weil sie offensichtlich die gleichen Vorstellungen im Gehirn abrufen.“

Das ist auch gut so: Wenn dies nicht so wäre, würden die Menschen trotz aller Übersetzungen ständig aneinander vorbeireden und vollkommen verschiedene Dinge meinen. „Auf diesem Gebiet gibt es jedoch noch viel zu erforschen, denn meine Resultate beziehen sich nur auf den männlichen Haarausfall“, resümiert der Linguist. Komplizierter werde es dagegen bei moralisch aufgeladenen Begriffen: So gehen die Vorstellungen über das Wort „Tugend“ in den verschiedenen Kulturen absehbar weit auseinander.

Quelle: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (idw)

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