Ungleiche Chancen fixieren Lebensläufe
Archivmeldung vom 08.07.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittUnter jungen Menschen geht Zukunftsangst um. Besonders Haupt- und Realschulabsolventen plagen Ängste vor Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel, vor verschärftem Wettbewerb und der Abwanderung von Arbeitsplätzen.
"Das Stimmungsbild spiegelt klar die Entwicklung, die junge Menschen tatsächlich
zu Verlierern macht", erklärt der Soziologie-Professor Hans-Peter Blossfeld von
der Universität Bamberg, der die Phänomene im Zuge der umfassend, systematisch
und vergleichend angelegten Verlaufsstudie "GLOBALIFE: Lebensverläufe im
Globalisierungsprozess - Veränderungen im Bildungs-, Beschäftigungs- und
Familiensystem moderner Gesellschaften" untersuchte. Die Ergebnisse wurden heute
bei einer Veranstaltung in Bamberg vorgestellt. Mit seinem Team konnte der
Forscher, unterstützt von der VolkswagenStiftung mit rund 1,4 Millionen Euro,
den innerstaatlichen Bedeutungswandel des Globalisierungsprozesses in 18
OECD-Ländern aufzeigen. "Die Jungen müssen sich zunehmend mit befristeten
Arbeitsverträgen, phasenweise niedrigem Verdienst oder qualitativ schlechter
Arbeit anfreunden", fasst Blossfeld ein wesentliches Ergebnis seiner
Untersuchungen zusammen. Das wirke sich auf die gesamte Lebensgestaltung aus.
"Wer nicht weiß, ob er nächstes Jahr Arbeit hat, schiebt die Familiengründung
auf", kommentiert er.
Vom Drive des Weltmarkts dagegen bleibt noch
weitgehend verschont, wer im Arbeitsleben Fuß gefasst hat. Jedenfalls in
Deutschland, wo die Gewerkschaften eher stark und rechtliche Vorgaben wie der
Kündigungsschutz einer entfesselten "Hire-and-fire"-Dynamik noch entgegen
stehen. "Diese nationalstaatlichen Strukturen sind recht beharrlich", erklärt
Blossfeld. "Sie verschwinden unter dem Druck der Globalisierung nicht, sondern
reagieren auf ein und dieselbe globale Entwicklung mit unterschiedlichen
Logiken, sodass es zu sehr unterschiedlichen länderspezifischen
Entwicklungspfaden kommt."
23 Wissenschaftler haben unmittelbar an "Globalife" gearbeitet, unterstützt von 44 externen Mitarbeitern aus 17 Ländern. Eine Fülle von Publikationen, drei Habilitationen, acht Dissertationen und sieben Diplomarbeiten sind dabei entstanden. In einem fünfjährigen Kraftakt hat Blossfeld mit seinem Team auf der Grundlage von Panel- und Lebensverlaufsdatensätzen die Sozialgeschichte der vergangenen drei Jahrzehnte in jenen 18 OECD-Ländern (siehe unten) rekonstruiert. Der Vergleich unterschiedlicher Geburtenjahrgänge von 1945 bis heute dechiffriert den historischen Wandel im Alltagsleben unterschiedlicher sozialer Gruppen in verschiedenen Ländern. Am Ende der Forschungen steht nun nicht weniger als eine Sozialgeschichte nationaler Eigenheiten.
Ergebnisse im Überblick:
Auf
der Makroebene bietet die von "Globalife" freigelegte Sozialgeschichte fünf
Fassungen zu fünf identifizierten Länderclustern. Jedes Cluster bündelt
Nationalstaaten, die mit vergleichbaren Systemen den Einfluss der Globalisierung
vor der nationalen Haustür filtern und so auf der Mikroebene Lebensverläufe mit
prägen.
"Konservativ" heißt bei "Globalife" das deutsche, holländische
und teilweise französische System, das mit zentralisierten Lohnsystemen, relativ
rigiden Arbeitsmarkt- und Bildungsregulierungen jenes geschlossene
Beschäftigungssystem erzeugt, das jungen Menschen den Berufseinstieg erschwert
und Insider begünstigt - vor allem gut vernetzte und qualifizierte erwerbstätige
Männer. Konträr dazu steht das "liberale" Ländercluster, zu dem England, Kanada
und die USA zählen, die als erste Wirtschaftsmacht selbst die Liberalisierung
des Weltmarkts anheizten. Entsprechend offen und flexibel ist der Arbeitsmarkt,
auf dem das "Hire-and-Fire"-Prinzip herrscht, "alte" männliche Privilegien
fallen, die Gewerkschaften schwach sind und die persönlichen Ressourcen zum
entscheidenden Erfolgskriterium werden.
Im "familienzentrierten" Cluster, vor allem in Spanien und Italien, lenkt ein extrem profilierter Insider-Outsider-Markt die Unsicherheiten auf die Außenseiter des Systems ab. In diesem Cluster nimmt Irland eine absolute Sonderstellung ein. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Großbritannien erreicht heute Irland durch seine weitgehenden Deregulierungen eine europäische Spitzenposition. "Irlands Arbeitsmarkt ist leergefegt", schildert Blossfeld die positiven Folgen: "Selbst die Jungen, in Kontinentaleuropa notorische Verlierer der Globalisierung, gehören hier zu den Gewinnern." Und so heiraten sie denn und steigern die Geburtenrate ihres Landes wie nirgendwo sonst in der EU. Doch, wie einst England, wird auch Irland nur so lange eine Insel der Glückseligen bleiben, bis andere Länder dem Deregulierungsbeispiel folgen, warnt Blossfeld.
Turbulent verläuft die Entwicklung in den Ländern des "postsozialistischen" Clusters. Nach 1989 erlebten diese einen schnellen Wandel von geschlossenen zu offenen Systemen. Anhand der verschiedenen Untersuchungskohorten Ungarns und Estlands zeigt "Globalife" quasi idealtypisch den Effekt der Globalisierung auf die Lebensverläufe: Während die Älteren, die noch in sicheren Arbeitssystemen aufgewachsen sind, früh feste Partnerschaften eingingen und Kinder bekamen, fällt die Geburtenrate in der Generation der Jüngeren steil ab.
Zwiespältig bildet sich das Schicksal von Frauen ab. "Den Job suchenden Zweitverdienerinnen fliegt ein bunter Strauß kleiner Chancen zu", erzählt Blossfeld, "den Alleinverdienerinnen dagegen erschweren offene Arbeitsmärkte das Leben - besonders den Müttern." Kurz: "Die Globalisierung wälzt ihre Unsicherheiten auf die Frauen ab." In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlieren sie auf dem europäischen Arbeitsmarkt sogar bereits gewonnenen Boden. Wie "Globalife" aufdeckt, dichotomisiert dies erneut weibliche Lebensverläufe: "Die einen ziehen sich wieder auf die Familie zurück, die anderen versuchen sich mit Patchworkkarrieren durchzuschlagen", erläutert der Bamberger Forscher. Von dieser Entwicklung noch weitgehend verschont blieben Frauen des "sozialdemokratischen", überwiegend skandinavischen Clusters. In Schweden und Norwegen werden berufstätige Frauen von Seiten des Staates stark unterstützt, was vor allem qualifizierte Frauen auf den Arbeitsmarkt lockt. In Deutschland und den post-sozialistischen Ländern dagegen trifft die neue Unsicherheit des Arbeitsmarktes hochqualifizierte Frauen am empfindlichsten. "Das lässt sich bestens am Geburtenrückgang ablesen, der dort manifest ist", meint Blossfeld.
Deutlich wird insgesamt: Ungleiche Chancen fixieren
Lebensläufe. In allen fünf Länderclustern sind Alter, Bildung und Geschlecht
Plattformen, auf denen die Chancen ungleich verteilt werden. Langfristig aber
wird Bildung wohl zum wichtigsten Kriterium, das Akademiker oder
"White-Collar-Workers" insgesamt zu Gewinnern macht: "Obwohl auch sie nicht mehr
vor Teilzeitarbeit und kurzfristigen Karriereknicks gefeit sind", wie Blossfeld
ergänzt. Beim Berufseinstieg sind Bildungsschwache zwar leicht im Vorteil, weil
ihnen oft zügiger Arbeit angeboten wird - jedoch wird diese auch schneller
vernichtet. Auf Dauer stellen Unqualifizierte das Bildungsproletariat, das
chancenlos bleibt in einer "Weltgesellschaft", die genuin von Wissen, der Suche
nach Innovationen und neuen Technologien angetrieben wird. Dass Wissenslücken zu
erbarmungslosen Karrierefallen werden, erfahren zunehmend auch ältere
Arbeitnehmer, die vielfach mit den Turbozyklen der Informationstechnik nicht
mithalten können. Ältere Erwerbstätige sind mit einem gravierenden Widerspruch
konfrontiert, wie "Globalife" jetzt enthüllt: So kennt der Arbeitsmarkt zwar
keine Altersgrenzen mehr, behindert aber implizit den Zugang für Ältere.
"Unsere Analysen zeigen, dass die globale Entwicklung die Ungleichheiten
noch vertieft", resümiert Blossfeld. Und anders als das romantische Bild des
"globalen Dorfs" suggeriert, würden sich auch Lebensverlaufsmodelle nie ganz
angleichen: "Gerade weil gewachsene Systeme in einer entgrenzten Gesellschaft
Sinn und Identität stiften", vermutet er. Noch ist der ganze Fundus des Projekts
nicht ausgelotet. Doch schon jetzt generiert "Globalife" neue Ansätze und
Perspektiven, die andere Wissenschaftsbereiche und politische Akteure beflügeln
können. Gleichzeitig bereichert es die Variationsbreite der von der
VolkswagenStiftung geförderten Projekte zur Globalisierungsforschung. Und es
verleiht aktuellen Stimmungsbildern den nötigen Hintergrund. So löst etwa
"Globalife" das Paradoxon auf, warum junge Menschen feste Partnerschaften und
Familiengründung aufschieben, selbst wenn sie sich Kinder wünschen.
Quelle: Pressemitteilung VolkswagenStiftung