Gravierende Eingriffe in Lebenswege von Kindern: Gutachten oft mangelhaft
Archivmeldung vom 02.07.2014
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtStreit um elterliche Sorge, Aufenthalt oder Umgangsrecht: Gerichte benötigen oft rechtspsychologische Gutachten. Eine Studie der FernUniversität in Hagen wertete 116 Gutachten im OLG-Bezirk Hamm aus: Nur eine Minderheit erfüllt die Qualitätsstandards, fanden zwei Psychologie-Professoren heraus.
„Erhebliche handwerkliche Fehler“ bei der Erstellung rechtspsychologischer Gutachten haben Prof. Dr. Christel Salewski und Prof. Dr. Stefan Stürmer vom Institut für Psychologie der FernUniversität in Hagen festgestellt, als sie jetzt in einer Studie 116 Gutachten aus den Jahren 2010 und 2011 im Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm untersuchten. Insbesondere fanden sie zahlreiche mangelnde psychologische Fundierungen des gutachterlichen Vorgehens und den Einsatz fragwürdiger Diagnoseinstrumente: „Tatsächlich erfüllt nur eine Minderheit der Gutachten die fachlich geforderten Qualitätsstandards“, so Prof. Salewski. Ein Zusammenhang zwischen rechtspsychologischer Fachausbildung und Qualität der Gutachten liegt für beide Wissenschaftler nahe.
187.027 Ehen wurden im Jahr 2010 in Deutschland geschieden, 145.146 Kinder erlebten dadurch einschneidende Änderungen in ihrem Leben – hinzu kommen noch die Trennungen nichtehelicher Lebensgemeinschaften (die vom Statistischen Bundesamt nicht erfasst werden). Bei besonders heftigen Streitigkeiten über elterliche Sorge, Aufenthalt der Kinder oder Umgangsrecht sollen Psychologinnen und Psychologen als Sachverständige Empfehlungen für die Richterinnen und Richter erarbeiten, deren Entscheidungen den Lebensweg der Kinder oft gravierend beeinflussen.
Viele dieser familienrechtspsychologischen Gutachten weisen jedoch schwerwiegende Qualitätsmängel auf, stellten Prof. Christel Salewski und Prof. Stefan Stürmer in ihrer Studie „Psychologische Gutachten für das Familiengericht: Diagnostische und methodische Standards in der Begutachtungspraxis“ fest.
Prof. Salewski (Lehrgebiet Gesundheitspsychologie) und Prof. Stürmer (Sozialpsychologie) untersuchten 116 familienrechtspsychologische Gutachten aus den Jahren 2010 und 2011 aus dem Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm. 91,4 Prozent davon wurden von Diplom- oder M.Sc.-Psychologen verfasst. Sie stellten fest, dass in 56 Prozent der Gutachten aus der gerichtlichen Fragestellung keine fachpsychologischen Arbeitshypothesen abgeleitet wurden Diese „Psychologischen Fragen“ strukturieren den Begutachtungsprozess und sind damit eine grundlegende Voraussetzung für ein aussagekräftiges Gutachten: „Der Gutachter muss die gerichtliche Fragestellung in ‚Psychologische Fragen‘ übersetzen und dann geeignete diagnostische Verfahren auswählen, um diese Fragen beantworten zu können“, erläutert Christel Salewski.
In 85,5 Prozent der Gutachten wurde die Auswahl der eingesetzten diagnostischen Verfahren nicht anhand der „Psychologischen Fragen“ begründet. Bei 41 Gutachten (35 Prozent) erfolgte die Datenerhebung ausschließlich über methodisch problematische Verfahren wie unsystematische Gespräche und ungeplante Beobachtungen, keine oder psychometrisch ungenügende projektive Tests bzw. testähnliche Verfahren. Lediglich in zwei dieser Fälle wurde auf mögliche methodische Einschränkungen der Ergebnisse hingewiesen. Je nachdem, welche Kriterien zugrunde gelegt wurden, beurteilten die beiden Hagener Wissenschaftler ein Drittel bis mehr als die Hälfte der Gutachten als fehlerhaft.
Ihre Analysen zum Qualifikationshintergrund der Sachverständigen zeigten allerdings, dass die Qualifikation zum „Fachpsychologen Rechtspsychologie“ mit einer nachweislich höheren Qualität der Gutachten einhergeht. Ca. ein Drittel der Gutachten wurde von Fachpsychologen für Rechtspsychologie erstellt, die von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.v. (DGPs) bzw. dem Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) zertifiziert wurden. Die Qualität ihrer Gutachten war nachweislich höher als die der anderen Gutachter.
Für Christel Salewski sind die Ergebnisse ihrer Studie „alarmierend“: „Die Richter stützen ihre Entscheidungen in starkem Maße durch die in den Gutachten ausgewiesenen Empfehlungen. Man darf nicht vergessen, dass hier Kinder involviert sind, über deren weiteres Leben gerichtliche Entscheidungen gefällt werden. Der Gutachter muss daher in seinem Bericht alle Informationen zu seinem Vorgehen eindeutig und ausführlich darstellen. Nur so kann ein ausreichendes Maß an Transparenz und Nachvollziehbarkeit sichergestellt werden.“
Auch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Richtern und Psychologen könnte nach Prof. Salewskis Ansicht helfen, die Qualität zu steigern: „Ein intensiverer interdisziplinärer Austausch zwischen Richterschaft und Psychologen über den Begutachtungsprozess würde dazu beitragen, dass qualifizierte Gutachten und sorgfältig arbeitende Gutachter künftig besser erkennbar werden.“
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat die Studie unterstützt und nahm sie zum Anlass, das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz im Hinblick auf einen verbesserten Dialog zwischen Richtern und Sachverständigen einzuschalten. Das Berliner Justizministerium plant hierzu eine Veranstaltung und hat die beiden FernUni-Wissenschaftler zu einer Vorbesprechung am 8. Juli eingeladen.
Quelle: FernUniversität in Hagen (idw)