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Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann sieht die Zahl der hyperaktiven Kinder in den nächsten sieben Jahren dramatisch ansteigen

Archivmeldung vom 20.06.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.06.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

In einem ausführlichen Interview mit der Landeszeitung Lüneburg äußerte sich der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann zur derzeitigen Förderpädagogik und deren Auswirkung auf die weitere Entwicklung von Jungen und Mädchen.

Die Mehrzahl der Abiturienten ist weiblich. Ist dieser Trend Vorbote für ein Matriarchat?

Bergmann: Nein, überhaupt nicht. Denn die führenden Positionen werden nach wie vor von Männern besetzt, und zwar auch von ganz jungen Männern. Das heißt, die vorbildlichen Noten der Abiturientinnen bedeuten nur, dass sie sich an die schulischen Ordnungen und Normen angepasst haben. Die wiederum passen aber nur sehr bedingt zur wirtschaftlichen Realität einer globalisierten Kultur. Das spielt zunehmend auch in den Einstellungen zumindest in den gehobeneren Positionen bei den Personalberatern eine entscheidende Rolle. Die Jungen spielen lieber Computer, als für die Schule zu lernen. Und das ist für ihren Beruf auch erheblich wichtiger.

Heißt das, dass sich in den vergangenen 50 Jahren nichts geändert hat?

Bergmann: Ein bisschen hat sich schon geändert. So in der Angleichung des sozialen Ansehens der Geschlechter. Aber Jungen sind Jungen, Mädchen sind Mädchen, ihre Unterschiedlichkeit zu leugnen, macht überhaupt keinen Sinn. Eine völlig andere Frage ist, ob unsere Kultur weiblichen Eigenschaften und Tugenden entgegenwächst. Davon kann aber, analytisch betrachtet, nicht die Rede sein. Es gibt in der ganzen Entwicklung der digitalen, der globalisierten Kultur nicht  einen einzigen großen weiblichen Namen -- es sind alles Männer.

Der allgemeine Leistungsabfall bei Jungen wird von Experten häufig damit in Zusammenhang gebracht, dass die Lehrerschaft überwiegend weiblich ist. Brauchen wir eine Männerquote für Schulen?

Bergmann: Das kann man nicht herbei dirigieren. Es wäre natürlich viel besser, wenn es mehr Männer schon in den Kindergärten gäbe, erst recht in den Grundschulen. In Kitas kann man beobachten, wenn z.B. ein Zivildienstleistender hereinkommt, dass die kleinen Jungen wie eine Traube an ihm hängen. Die Weiblichkeit der Kindergärten und der Grundschulen führt dazu, dass eine Sehnsucht nach dem Väterlichen, dem Männlichen ausgelöst wird, nach jemandem der sagt: ,So ist das, jetzt wider-sprich' mir nicht.' Das können Frauen nicht oder genauer: Sie können es anders, aber vor allem den Jungen fehlt dann das Männliche, das Väterliche in der Vermittlung von Normen und Regeln. Und so stehen Erzieherinnen oder Lehrerinnen zeitweise völlig hilflos vor einem dissozialen Chaos. Dann lesen sie schlechte Literatur -- beispielsweise, dass die Kinder Tyrannen sind. Dieser Tatbestand ist aber auch ein Zeichen dafür, dass uns Kinder nichts wert sind. In Finnland oder Schweden haben wir das Problem nicht. Denn dort sind Berufe, in denen man sich mit kleinen Kinder befasst, hoch angesehen.

Auch in skandinavischen Ländern, den PISA-Siegern, ist die Lehrerschaft überwiegend weiblich. Woran kann es liegen, dass Jungen dort nicht aus dem Rahmen fallen?

Bergmann: In Finnland schon, auch in Dänemark gibt es mehr männliche Lehrer. Es kommt auch nicht so sehr auf das Biotische an. Wenn eine Frau vor 20 Neunjährigen anfängt, sich durchzusetzen, dann wird ihre Stimme immer höher und kreischender, und die Kleinen denken schließlich, die hat mir gar nichts zu sagen. Wenn aber ein Mann vor der Klasse steht und mit kräftiger Stimme Ruhe fordert -- vor allem die hyperaktiven Jungen sind da sehr beeindruckbar -- sind alle still.

Aggressives Verhalten, skrupellose Prügeleien und Koma-Saufen machen immer häufiger Schlagzeilen, prägen den Zeitgeist der Jugend. Woran liegt das?

Bergmann: Ganz so drastisch ist es nicht. Das Problem Aggressivität ist, dass es eine ungekonnte Aggressivität ist. Wir haben uns früher auch gewaltig geprügelt. Wir lernten dabei aber, weil wir nicht ständig beaufsichtigt wurden, automatisch Körperlichkeit und Rücksichtnahme. Die modernen Kinder haben das nicht mehr, stehen ständig unter Kontrolle und Anspannung. Damit kommen die seelisch verletzbaren kleinen Jungen noch weniger zurecht als die Mädchen. Beim Koma-Saufen zeigt sich die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, soziale kommunikative Eigenschaften zu entwickeln. Wir sind eine Ego-Gesellschaft. Das prägt sich in unseren Kindern aus. Früher wurde auch getrunken. Aber wir tranken kommunikativ, im Laufe der Gespräche auf einer Party. Koma-Saufen ist etwas anderes: Man nimmt die Flasche Hochprozentiges und schüttet sich zu, weil man sich vorher kaum in der Lage sieht, Spaß zu haben und mit anderen zusammen zu sein. Es gibt einen tiefen Kommunikationsverlust. Und solange wir auf den Prophylaxe-Tagungen nur darüber nachdenken, wie man das kontrollieren kann, können wir die ganzen Treffen vergessen und das Geld lieber in Heime für Obdachlose stecken.

Kinder aus sozial schwachen Familien sind häufig auf sich allein gestellt. Wie sollen die es lernen?

Bergmann: Das sind circa 15 Prozent -- auf diese Klientel zielen im Wesentlichen die Boulevardmedien ab. 75 Prozent aller Kinder wachsen in Familien mit Vater auf Mutter auf, was vielen Pädagogen unbekannt ist. Wohl haben sich die Familien geändert, von der Groß- zur Kleinfamilie, doch das ist ein anderes Thema. Aber Kontrolle ist heutzutage sehr viel unmittelbarer, dichter und undurchdringlicher und zwar von Kindheit an. Schon die Zweieinhalbjährigen werden in Förderkurse gespannt. Wenn die in einem dieser Exklusiv- oder Exzellenz-Pädagogik-Kindergärten wie ,,Kids auf der Überholspur" oder ,,Little Giants" eine Blume sehen, sich freuen und sich mit dem Charakter dieser Blume verbinden wollen, kommt die Erzieherin und sagt: ,,This is a flower". Und in dem Moment ist das Intuitive, das Körperliche, das spontane Empfinden für den Gegenstand verloren gegangen. Diese ganze Förderpädagogik ist des Teufels, das sagt uns auch die Gehirnphysiologie. Die Kinder sind permanent unter dem Druck: Ich muss ein tolles und erfolgreiches Kind sein. Sie lernen zu rivalisieren, bevor sie soziale Eigenschaften und das freie frohe Spiel miteinander gelernt haben. Das geht in der Grundschule weiter.

Wir leben in einer medialen Welt. Ist das ein Fluch oder ein Segen für die Entwicklung von Kindern?

Bergmann: Zunächst einmal ist das eine kulturelle Entwicklung. Dagegen kann man gar nichts machen. Da können sich Leute wie jetzt die Innenminister moralisch empören bis sie schwarz sind, das interessiert absolut niemanden. Mit dieser moralisierenden Haltung kommen wir nicht weiter. Die Kinder wachsen in eine digitalisierte Informations- und Bildkultur hinein. Vor allem die Jungen, die sich mit dieser Technokratie und diesen hoch eindrucksvollen ästhetischen Bildern unendlich gut auskennen, gerade die Hyperaktiven, die Schwierigen. Die brauchen Sie nur vor einen Computer zu setzen, plötzlich können die alles, was sie sonst nicht können: still sitzen, sich konzentrieren, planmäßig vorgehen. Das einzige, was sie nicht können, ist aufhören. Die Diskussion verrennt sich in meist sinnlose quantitativ statistische Erhebungen wer spielt wie lange -- oder in eine pädagogische moralisierende Gebärde. Mit beiden kommen wir nicht weiter.

Was kann Schule da leisten?

Bergmann: Schule kann da wenig leisten. Wer hört denn einer Lehrerin zu, wenn sie etwas über ein Computerspiel erzählt? Oder wenn Herr Pfeiffer (Prof. für Kriminologie u. Jugendstrafrecht, Red.) wieder mal für ein Verbot plädiert. Der Mann hat noch nie in seinem Leben begeistert gespielt. Der weiß gar nicht, wo die Faszination steckt in ,,World of Warcraft", wenn sich der Spieler verliert in kaltem Lichtgelände, das muss man spüren. Wenn wir die Sache ernst nehmen, dann müssen wir uns verbünden mit den narzisstischen Energien, mit den Faszinationen der Kinder. Computerspielen ist einsam. Daher muss man versuchen, ein Stück der sozialen Kultur der Kommunikation, der Bindungsfähigkeit, die auch den modernen Kindern eigen ist, herzustellen, um sie dort wieder hineinzulocken. Nie gab es eine Kinder- und Jugendgeneration, die so sehr auf Erwachsene hört, wenn sie diese Erwachsenen respektiert. Aber sehr viele Erwachsene, vor allem Lehrer, Pädagogen, Therapeuten entziehen sich selber sozusagen der Aufmerksamkeit der Kinder. Ein starker Mensch ist nie einer, der moralisierend ist.

Chatten, Simsen, Dauertelefonieren erwecken den Eindruck, dass die Jugend in einer Welt voller Freunde lebt. Dennoch ist Studien zufolge die Sehnsucht nach Geborgenheit groß. Wie passt das zusammen?

Bergmann: Der Widerspruch, den ich eben skizziert habe, ist auch in den Jugendlichen selber drin. Sie stehen permanent in Verbindung mit einem anderen, aber nur so lange, wie er gerade interessiert. Ein Klick, und dann ist er weg. Der mir gegenüber sitzt, verliert an Bedeutung, denn bei dem kann ich nicht Klick machen. Gleichzeitig aber sind diese modernen Kinder auch Kinder mit Sehnsüchten nach Mama, Liebe, Geborgenheit. Und je kälter diese Gesellschaft wird, desto größer wird die Bedürftigkeit der 14- bis 17-Jährigen nach Geborgenheit. Und diese müssen Erwachsene stiften. Das ist die große Kunst.

Wären Ganztagsschulen eine Lösung?

Bergmann: Diese wären dann eine Lösung, wenn wir einen anderen Typus von Lehrern hätten. Solche, die nicht moralisieren, sondern die cool sind, großzügig, gelassen. Solche, die auch mal weggucken, wenn  Jungen sich in ihre hierarchischen Kämpfe verstricken. Ganztagsschulen sind eine Hilfslösung, die interessanter wäre, wenn wir Leute an die Schulen holten wie Künstler, Bildhauer, aber auch Tischler und andere Handwerker. Am besten solche, die nichts von Pädagogik verstehen, die aber mit großem Enthusiasmus und beruflichen Erfahrungen auf die Jugendlichen zugehen. Dann sind die Schüler plötzlich ganz geordnet, begeistert. Dafür gibt es ganz viele Beispiele.

Das geht in Richtung Waldorf-Pädagogik?

Bergmann: Die Waldorf-Pädagogik ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch die Montessori-Pädagogik und die Reformpädagogik insgesamt -- inzwischen 100 Jahre alt -- ist gegenüber den Regelschulen ganz eindeutig sehr viel moderner und fortschrittlicher. Es gibt bedeutende Leute wie Enja Riegel, die eine Modellschule nach der anderen eröffnet hat, die in den PISA-Tests auch optimal abschneiden. Die Frage ist, warum die Kultusbürokratie das nicht nachmacht. Und: Warum lassen sich Lehrer das gefallen, warum machen sie das mit?

Also müssten die Studiengänge überarbeitet werden?

Bergmann: Die Ausbildung muss sich ändern, das Untertan-Verhalten vieler Lehrer muss aufhören, das Hochnormativ-moralische muss sich ändern, das ewig gekränkte Beleidigtsein muss aufhören. Und dann brauchen die Kinder, vor allem die Jungen, starke Erwachsene. Die Politik macht sich stark für mehr Krippen- und Kita-Plätze, damit mehr Mütter arbeiten gehen können. Ist das der richtige Weg? Bergmann: Das ist mit Sicherheit ein absolut irrwitziger Weg. Davor warnt sogar die konservative Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und an die Adresse der Bundesfamilienministerin gerichtet, mache ich darauf aufmerksam, dass die Zahl der hyperaktiven Kinder in den nächsten sieben Jahren dramatisch steigen wird. Die Krippen-Diskussion ist rein technokratisch und propagandistisch gelaufen. Frau von der Leyen sagt nicht einen einzigen Satz zur Bedürftigkeit von Kindern. Es geht nur um die Bedürftigkeit der Wirtschaft. Das heißt, die Kälte, die insgesamt unsere Kinder verstört, wird in dieser Diskussion noch einmal deutlich sichtbar. Da trägt die Familienministerin auch als Person eine moralische Verantwortung.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Dietlinde Terjung)

 

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