Wir sind Kirche zum Papstbesuch in Deutschland: „Innerkirchliche Reformen einleiten statt Eventkultur nach außen!“
Archivmeldung vom 08.09.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDass der dritte Deutschlandbesuch von Papst Benedikt XVI. nicht nur als teurer Massen-Event gefeiert wird, sondern der Papst ungeschminkt über die aktuelle Situation in seinem Heimatland und die auch in Deutschland immer drängender werdenden pastoralen Notstände informiert wird, fordert die KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche.
Der Papst sollte endlich zur Kenntnis nehmen, dass die große Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen in Deutschland die seit langem als erforderlich erkannten Reformanliegen unterstützt: Rückbau der autokratischen Strukturen, Abschaffung des Pflichtzölibats, Zugang der Frauen zu allen kirchlichen Ämtern, das gemeinsame Abendmahl mit anderen Konfessionen und wiederverheirateten Geschiedenen, Weiterentwicklung der Sexuallehre und das Ende der Diskriminierung Homosexueller.
Von der Regelung dieser Minimalforderungen hängen nach Ansicht der katholischen Reformbewegung der Erfolg einer „Neuevangelisierung Europas“ und die Glaubwürdigkeit aller weiteren Reformbestrebungen ab. Der oft vorgebrachte Verweis auf die „weltkirchliche Ebene“ überzeugt schon lange nicht mehr, denn mittlerweile werden diese Reformanliegen weltweit geteilt.
Wenn die deutschen Bischöfe diesen Papstbesuch als einen Baustein des „Dialogprozesses“ sehen, den sie auf dem Höhepunkt der Missbrauchskrise im letzten Herbst angekündigt und bisher nur sehr zögerlich begonnen haben. so ist zu fragen: Wo wird es bei den drei Stationen Berlin, Erfurt und Freiburg einen wirklichen Dialog geben?
Bei seiner Rede im Deutschen Bundestag, ein genuiner Ort von Debatte und Dialog, gibt es keine Fragestunde. Die Einstellung Joseph Ratzingers zu Demokratie und pluraler Gesellschaft, die er sehr pauschal als „Diktatur des Relativismus“ diffamiert, ist bekannt. Bleibt zu hoffen, dass der Pontifex – anders als bei der Regensburger Rede – diesmal bezüglich des Islam und in der Europadebatte nicht zur Polarisierung, sondern zum Brückenbauen und zur Differenzierung beitragen wird. Dass er hier als Oberhaupt eines Kleinstaates – der die Europäische Menschenrechtskonvention noch nicht unterschrieben hat – sprechen wird, zeigt die ohnehin nicht unproblematische Doppelrolle des Papstamtes.
Sein Besuch im Erfurter Augustinerkloster, in dem Martin Luther vor 500 Jahren katholischer Mönch war, wird spektakuläre Bilder liefern und sicher Eingang in die Geschichtsbücher finden. Doch wie kann ein 35-Minuten-Gespräch mit den Spitzen der Evangelischen Kirche Deutschlands (zuerst war noch weniger Zeit eingeplant!) den seit langem geführten ökumenischen Dialog wirklich voranbringen und konkrete Früchte zeitigen, z.B. in der Abendmahlsfrage für konfessionsverbindende Ehepaare?
In Freiburg trifft sich der Papst auch mit den Bundesverfassungsrichtern. Wird er sich Anregungen für eine menschenrechtskonforme Kirchenverfassung geben lassen? Oder bleibt es bei seinen Hinweisen, dass die christlichen Grundwerte die Basis demokratischer Verfassungen bilden sollen?
Wenn der von den Bischöfen in Deutschland eingeleitete Gesprächsprozess nicht zur Farce werden soll, muss der Papst endlich grünes Licht für einen wirklich Dialog geben, der der Bedeutung der „Communio“ im Sinne des Zweiten Vatikanums gerecht wird und in dem nicht von vorneherein bestimmte, für die Bischöfe unliebsame Themen ausgeklammert werden.
Das Motto der Papstreise „Wo Gott ist, da ist Zukunft“ stellt die Gottesfrage in den Mittelpunkt. Konservative Kreise versuchen Gottes- und Kirchenkrise gegeneinander auszuspielen, um ihre alten Kirchenvorstellungen und Kirchenprivilegien zu retten. Doch es sind gerade die überholten Strukturen, Dogmen und Vorschriften, die vielen suchenden Menschen den Weg zu Gott und einer überzeugenden Glaubenspraxis innerhalb der Kirche versperren.
Hintergrund
Die dritte Deutschlandsreise von Papst Benedikt XVI. fällt nicht nur in die aktuelle Krise Europas und des Weltfinanzsystems, sondern auch in die größte Krise der römisch-katholischen Kirche seit der Reformation. Wie die erst kürzlich vorgelegten offiziellen Zahlen für das Jahr 2010 zeigen, ist die Zahl der KatholikInnen noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik so schnell gesunken und das, obwohl der Papst aus Deutschland kommt und der Schwerpunkt seines Pontifikats auf Europa liegt. Die Zahl der KatholikInnen in Deutschland ging in den letzten 20 Jahren dramatisch von 28,2 Mio. (1990) auf 24,6 Mio. (2010) zurück. Fast 2,8 Mio. KatholikInnen sind in diesem Zeitraum aus der röm.-kath. Kirche ausgetreten oder – aber das ist nur ein kleiner Teil – in eine andere Kirche übergetreten.
Im Skandaljahr 2010 stieg die Zahl der Kirchenaustritte um dramatische 47 Prozent gegenüber dem Vorjahr an – auf mehr als 181.000. Einen Rückgang der Kirchenaustritte gab es nur nach der Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst. Doch dieser „Papstbonus“ hat nur drei Jahre angedauert. Der „Wir sind Papst“-Jubel direkt nach der Papstwahl hat sich schon lange gelegt, nachdem zahlreiche Entscheidungen den vorkonziliaren Trend dieses Pontifikats immer offensichtlicher werden ließen. Im November 2011 sind es genau dreißig Jahre, dass Joseph Ratzinger – zunächst als Präfekt der römischen Glaubenskongregation und jetzt als Papst – den theologischen Kurs des Vatikans entscheidend verantwortet und prägt.
Das Anfang Februar 2011 veröffentlichte Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“ hat die fast unerträglich gewordenen Spannungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche deutlich gemacht. Fast 70.000 Menschen haben sich bisher mit dem Memorandum der mehr als 300 Theologieprofessorinnen und -professoren solidarisiert. Doch die deutschen Bischöfe lassen sich von einer viel kleineren Zahl konservativer Kräfte immer mehr unter Druck setzen und wagen es nicht, die dringend erforderlichen Reformen durchzuführen. Innerhalb der deutschen Bischofskonferenz wird die Polarisierung immer offensichtlicher. Ein Beispiel dafür lieferte in jüngster Zeit die öffentliche Schelte von Kardinal Meisner an den Ausführungen des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz in einem Interview mit der ZEIT, in der Erzbischof Zollitsch für „Barmherzigkeit“ gegenüber einer zweiten Eheschließung von Geschiedenen eintrat.
Roms Bischofsernennungen der letzten Jahre haben die konservative Fraktion gestärkt. Die drei traditionellen deutschen Kardinalssitze Köln, München und Berlin sind jetzt mit Bischöfen besetzt sind, die das ultrakonservative Netzwerk Opus Dei unterstützen: Kardinal Meisner, Kardinal Marx – beide haben die Heiligsprechung des Opus Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer y Albás befürwortet – und jetzt Erzbischof Woelki in Berlin, der an der Opus Dei-Universität in Rom promoviert hat und sicher auch bald zum Kardinal ernannt wird. Das entspricht der offiziellen kirchenpolitischen Linie: Papst Benedikt hat die theologische Ehrendoktorwürde aus der Hand des Opus-Dei-Chefs Ecchevarria erhalten und sein Privatsekretär Georg Gänswein unterrichtete als Dozent der Opus-Dei-Universität in Rom zukünftige Priester des Opus Dei.
Quelle: Wir sind Kirche