Gesellschaftlicher Wandel für Nomaden problematischer als Klimawandel
Archivmeldung vom 16.07.2014
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtDer gesellschaftliche Wandel könnte die Weideflächen in Trockengebieten weltweit stärker beeinflussen als der Klimawandel. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftlerinnen des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und der Universität Köln, die dazu ökologische und gesellschaftliche Einflussfaktoren im Computermodell simuliert haben. Bis zu einem gewissen Grad könnten die Auswirkungen des Klimawandels durch eine erhöhte Mobilität der Viehherden ausgeglichen werden, schreiben die Wissenschaftlerinnen im Fachblatt „Global Environmental Change“.
Der Bedarf nach höheren Einkommen und weniger verfügbares Weideland machten es jedoch den Nomaden zunehmend schwerer, ihre Herden umzutreiben und damit ihre Existenz zu sichern.
Die Trockengebiete der Erde machen etwa 40 Prozent der Landoberfläche weltweit aus. Viehhaltung ist dort die wichtigste Einnahmequelle, von der über eine Milliarde Menschen leben. Da die Niederschläge in diesen Regionen gering sind und unregelmäßig auftreten, haben viele Nomadenvölker ihre Lebensweise daran angepasst und ziehen mit ihren Herden dorthin, wo die Vegetation gerade die beste Nahrung für das Vieh bietet. Dadurch schonen sie gleichzeitig einen Teil des Weidelandes, das sich so regenerieren kann – eine positive „Nebenwirkung“ der Mobilität. Veränderte Klimabedingungen wie stärkere Schwankungen im Niederschlag könnten dieses empfindliche System stören. So wird beispielsweise für verschiedene Regionen im Nordwesten Afrikas mit einem Rückgang der Niederschläge von 10 bis 20 Prozent gerechnet. Die Studie hatte deshalb das Ziel, jene Grenzen des Klimawandels aufzuzeigen, bis zu denen die Existenzgrundlagen für Haushalte mit Viehhaltung langfristig erhalten werden können, und hat dabei auch gesellschaftliche Veränderungen mit einbezogen. Dazu kombinierten die Wissenschaftlerinnen eine Risikobewertung mit einem ökologisch-ökonomischen Modell.
Bei der Auswertung zeigte sich, dass stärkere zeitliche Schwankungen bei den Niederschlägen die Viehhaltung weniger beeinträchtigen als ein Rückgang der durchschnittlichen jährlichen Niederschlagsmenge. Sozio-ökonomische Veränderungen wie ein erhöhter Bedarf an Einkommen verschoben die Toleranzgrenzen für Niederschlagsschwankungen nach oben. „Bis zu einem gewissen Grad ermöglicht die Mobilität den Nomaden, ihre Weidewirtschaft auch in weniger produktiven Systemen aufrechtzuerhalten und so negative Effekte des Klimawandels auszugleichen“, berichtet Dr. Romina Martin vom UFZ, die jetzt am Stockholm Resilience Centre forscht. Mit dem gestiegenen Bedarf an Einkommen und dem gesunkenem Zugang zu Weideland wird es jedoch zunehmend schwerer, diese Mobilität aufrechtzuerhalten.
„Auch wenn unser Modell auf nomadische Beweidungssysteme zielt und auf wenige Faktoren beschränkt ist, so spiegelt es doch die Konsequenzen des gewaltigen Landnutzungswandels in den Trockengebieten wider“, schildert Prof. Karin Frank vom UFZ. „Unser Ansatz beschränkt sich aber nicht nur auf die Erforschung von Beweidungssystemen. Er kann überall dort eingesetzt werden, wo die Dynamik von Ökosystemdienstleistungen eng mit der Existenzsicherung verbunden ist.“
„Unsere Ergebnisse unterstreichen, dass mit der Weidewirtschaft von umherziehenden Nomaden sensible Ökosysteme nachhaltig genutzt werden können und dass die Ökosysteme unter dieser Nutzungsweise flexibel genug sind, sich an veränderte Niederschläge und damit an den Klimawandel anzupassen“, betont Dr. Anja Linstädter von der Universität Köln. „Wir sollten daher das Nomadentum nicht einfach als überholte Tradition abtun“, ergänzt Dr. Birgit Müller vom UFZ. In vielen trockenen Regionen könne dies die einzige langfristig nachhaltige Nutzung sein – im Gegensatz zu intensiver Landwirtschaft, die dort zwar höhere Erträge ermöglicht, aber dafür Boden und Wasserressourcen so sehr übernutzt, dass schon nach kurzer Zeit keine Landwirtschaft mehr möglich ist. Aus Sicht der Autorinnen wirft dies auch ein Schlaglicht auf die Debatte um aus westlicher Sicht scheinbar ungenutzte Flächen in vielen Regionen Afrikas. In Wirklichkeit stellen sie als kommunales Weideland eine wichtige Lebensgrundlage für die lokale Bevölkerung dar.
In die Studie waren Forschungsergebnisse von Feldstudien im Atlasgebirge und der östlichsten Provinz Oriental in Marokko sowie aus dem Tibetischen Hochland eingeflossen, die im Rahmen zweier interdisziplinärer Projekte entstanden sind. Unter dem Dach des Projektes „IMPETUS“ der Universitäten Köln und Bonn hatten Klimatologen, Hydrologen, Geografen, Weideökologen und Ethnologen über zwölf Jahre die Folgen des Klima- und Landnutzungswandels auf Naturressourcen im Hohen Atlas Marokkos untersucht. Ihre Daten zu Niederschlagsschwankungen sowie zur Produktivität und Regenerationsfähigkeit der Weidevegetation bildeten die Grundlage für den ökologischen Teil des Modells. Der Schwerpunkt des Sonderforschungsbereichs „Differenz und Integration“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) lag dagegen auf der Erforschung des Lebens von nomadischen Völkern im sogenannten altweltlichen Trockengürtel. Dabei hatten über zehn Jahre lang Archäologen, Ethnologen, Geografen, Historiker und Orientwissenschaftler der Universitäten Halle und Leipzig zusammen mit Kollegen von anderen Instituten geforscht, denn seit über 5000 Jahren existieren zwischen Marokko und Tibet nomadische und sesshafte Kulturen nebeneinander.
Bei der Vermittlung dieses Wissens wurden inzwischen auch unkonventionelle Wege eingeschlagen: Im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs „Differenz und Integration“ hatten Wissenschaftler des UFZ zusammen mit der Universität der Künste Berlin (UdK) ein Strategiespiel entwickelt, um die Zusammenhänge zwischen Landnutzung, Niederschlägen und Viehertrag einem breiten Publikum verständlich zu machen. Dabei schlüpfen bis zu sechs Spieler in die Rollen eines Hirtennomaden mit dem Ziel, ihr Kapital in Form von Schafen zu vergrößern. Dabei müssen sie Entscheidungen treffen, die nicht nur vom Zustand der Weiden sondern auch von den alltäglichen Herausforderungen in der Steppe abhängen. Das Brettspiel „NomadSed“ ist ab einem Alter von 10 Jahren geeignet und wird inzwischen auch für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit eingesetzt, so zum Beispiel von der Organisation „Tierärzte ohne Grenzen“ in Kenia.
Quelle: Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ (idw)