Die junge Generation trotzt gelassen negativen Perspektiven - "Egotaktiker" nennt sie der Bildungsexperte Professor Hurrelmann
Archivmeldung vom 02.01.2015
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie junge Generation trotzt gelassen negativen Perspektiven - "Egotaktiker" nennt sie der Bildungsexperte Professor Hurrelmann Sie lieben Smartphones und Internet, wollen gute Schulabschlüsse, fragen ungeniert ihre Eltern um Rat - das ist die Generation der heute 15- bis 30-Jährigen, die sogenannte Generation Y. Die ungewisse Zukunft schockt sie nicht, der Bildungs- und Jugendforscher Professor Dr. Klaus Hurrelmann sieht sie sogar als "heimliche Revolutionäre", denn ihnen gelingt es, die Welt still und leise zu verändern.
Der Fokus Ihrer aktuellen Forschung liegt im Bereich der jungen Generation. Welche Rolle spielt die Jugend für die Entwicklung der Gesellschaft? Prof. Dr. Klaus Hurrelmann: Sie bringt in jede Gesellschaft immer das Neue, Aufbrechende, Innovative. Es ist durchaus kritisch zu sehen, wenn die junge Generation in Bezug auf ihre Bevölkerungsstärke eher klein ist, wie es bei uns in Deutschland gerade der Fall ist.
Sie sehen die Generation Y als die heimlichen Revolutionäre? Was hat sie denn revolutioniert? Hurrelmann: Hier muss man sich anschauen, welche Erfahrungen sie mitbringen. Das Interessante an Jugendforschung ist, dass man im Grunde in den Persönlichkeiten der jungen Generation Geschichte, technische Entwicklungen, aber auch Krisen gespiegelt sieht. Diese jungen Leute, die heute an der Schwelle zum Beruf stehen, haben ihre Jugendzeit in den 2000er-Jahren gehabt. In diese Zeit fielen eine Reihe von Krisensituationen: nine eleven in New York, weitere Terroranschläge, Umweltkatastrophen bis hin zu Fukushima und vor allem auch Wirtschafts- und Finanzkrisen. Die jungen Leute haben sehr bald gemerkt, dass sie das ganz persönlich, unmittelbar betrifft. Denn fast ein Drittel ist nicht in den Ausbildungs- und Berufsmarkt hineingekommen. Das alles sind sehr intensive Erfahrungen, die dieser Generation gezeigt haben: Sicher ist gar nichts mehr, dennoch geht es weiter. Darauf haben sie sich einstellen müssen. Deswegen haben sie diese Charakterzüge, die wir in unserer Forschung herausgearbeitet haben: alles offen halten, Abschlüsse optimieren, flexibel sein. Wir sprechen daher von der "egotaktischen" Komponente im Verhalten dieser Generation.
Aktuelle Zahlen belegen diese Verhaltensweisen: die Zahl der Schulabbrecher ist zurückgegangen, die Zahl der Abiturienten steigt. Liegt's am Bewusstseinswandel oder am Bildungsangebot? Hurrelmann: Beides spielt eine Rolle. Zum einen hat die Schulpolitik reagiert, zum anderen fällt auf, dass die starke Fokussierung auf gute Bildungsabschlüsse von den Eltern unterstützt wird, teilweise von den Eltern angetrieben wird. Sie sind die wichtigsten Förderer, Trainer, Karriere- ebenso wie Finanzberater. Das alles zusammen hat dazu geführt, dass wir zum ersten Mal so viele Schulabgänger mit hohen Abschlüssen haben wie noch nie.
Vor einigen Jahren waren die Mädchen auf der Überholspur der Karriere-Autobahn. Haben die Jungen wieder an Strecke gewonnen? Hurrelmann: Auf den zweiten Blick fällt auf: Die jungen Frauen haben ganz besonders gepunktet. Die Jungen hingegen haben in puncto Bildungsabschlüssen nichts an Boden gut gemacht. Zurzeit erobern Frauen auch die ganz hochkarätigen Ausbildungsgänge. An den medizinischen Hochschulen zum Beispiel sind 70 Prozent der Studierenden weiblich, bei Jura liegt ihr Anteil bei etwa 65 Prozent. Die Frauen sehen das als historische Chance, die Benachteiligung, die sie noch von ihren eigenen Müttern kennen, nicht mehr hinzunehmen.
Damit wird das Thema Frauenquote bald überflüssig? Hurrelmann: Gerade zu diesem Zeitpunkt halte ich die Frauenquote für sehr hilfreich. Denn die strukturellen Angebote im Bildungs- und Berufssystem spielen sehr wohl eine Rolle. Mit der Frauenquote kommt ein Signal hinzu, das auch auf die etwas zurückhaltenden jungen Frauen motivierend wirken kann, Karriere zu machen. Daher ist es genau die richtige Zeit und die richtige Geste.
Einerseits sind gut 60 Prozent der Schüler strebsam, andererseits sind die Jugendlichen trotz aller Horrorszenarien relativ relaxed. Leben sie mit Scheuklappen auf den Augen? Hurrelmann: Die Jugendlichen schätzen die Krisensituationen sehr nüchtern ein. Aber sie glauben, dass sie, wenn sie sich geschickt verhalten, der Krise entkommen können. In allen Erhebungen konnten wir diese pragmatische, optimistische Grundhaltung bei den jungen Leuten beobachten. Und das nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit fünf, sechs Jahren. Dieses Phänomen hat etwas mit der bewussten Unterstützung durch das Elternhaus zu tun, und zwar in einem Ausmaß, das es in dieser klaren Form noch nie gab, zumindest nicht in der Nachkriegszeit. Die junge Generation geht quasi mit ihrer Elterngeneration eine richtige Allianz ein. Es findet keinerlei Ablehnung statt, sondern im Gegenteil, man verbündet sich. Das Elternhaus ist quasi ihre Rückversicherung für den Fall, dass doch etwas schiefgeht in dieser ungewissen, offenen und sehr unstrukturierten Phase des Übergangs von der schulischen Ausbildung über Lehre oder Studium in den Beruf.
Die Revolution liegt also darin, dass man sich Elternrat einholt, statt ihn zu verteufeln? Hurrelmann: Für die 68er wäre das undenkbar gewesen. Sie legten Wert darauf, einen eigenen Weg zu gehen. Das trifft auf die heutige Generation überhaupt nicht zu. Sie wirkt eher angepasst, brav und sanft. Man muss sehr genau hinschauen, um zu erkennen, dass sie still und leise faktischdoch einiges bewirkt hat. Zum Beispiel sind aus den traditionellen Gymnasien Dienstleistungsbetriebe geworden, die gute Schulkarrieren sichern. Schulen allgemein sind heutzutage sehr demokratische Institutionen. Was natürlich auch ein Verdienst der Lehrkräfte ist.
Auch in Sachen Komasaufen verzeichnen die Statistiker rückläufige Zahlen, insbesondere bei den 10- bis 14-Jährigen. Lernt diese Generation schneller aus ihren Fehlern? Oder sind "Trends" allgemein kurzlebiger? Hurrelmann: Das Komasaufen ist ein ganz spannendes Thema. Es steht symptomatisch dafür, dass das Aushalten der Ungewissheit, das Überbrücken dieser nicht planbaren Lebensschritte sehr viel Kraft kostet. Solche stressartigen Belastungen können sich unter anderem in Exzessen ausdrücken. Man will sich von jetzt auf gleich betäuben, wenn man mal heraus will, und innerhalb von einer Viertelstunde das Gefühl haben möchte, diese ganze Belastung loszuwerden. Allerdings kollidiert das mit der Erfahrung, dass man fit, konzentriert und diszipliniert sein muss, um in dieser Gesellschaft zu bestehen. Das haben etwa 60 Prozent dieserGruppe, die Starken, gut Etablierten sehr schnell verinnerlicht. Sie suchen sich lieber andere Dinge zur Entspannung und sind insofern in der Tat eine sehr lernfähige junge Generation.
Die Bundesregierung treibt die Inklusion voran. Wie kann die Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bildung gelingen? Hurrelmann: Das ist eine enorme Herausforderung und wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen und überheben, wenn wir von heute auf morgen alle Kinder mit irgendeiner Art von Beeinträchtigung aus den - in Deutschland schon seit Jahrzehnten - etablierten Förderschulen lösen und in die Regelschulen schicken. Das kann so schnell nicht kompetent funktionieren. Das ist ein sehr langwieriger Prozess. Daher empfehle ich die Umsetzung schrittweise vorzunehmen, damit man die Erfahrungen, die man dabei sammelt, schnell einfließen lassen kann. Ganz wichtig dabei ist, dass man die Kinder und ihre Eltern dabei mitbestimmen lässt.
Trotz Wahl-O-Mat und Twitterei - die Parlamente überaltern. Warum zieht es so wenig junge Leute in die Politik? Hurrelmann: Weil die Politik für sie eine Organisationsform hat, die ihr fremd ist, vielleicht sogar abstoßend auf sie wirkt. Sie stellen in der Tat nur noch ein Prozent Parteimitglieder - vor 20 Jahren waren es etwa 3 Prozent - also ein sehr spürbarer Rückgang. Hier haben die Parteien eine Bringeschuld, denn sie sind der wichtigste Transmissionsriemen zwischen dem, was an Meinungen in der Bevölkerung kursiert, und dem, was in die Parlamente befördert werden muss. Die Shell Jugendstudien beobachten allerdings seit einiger Zeit, dass bei den Jüngeren das Politikinteresse wieder zunimmt. Und auch hier tritt wieder ihr egotaktischer Charakter zutage, denn sie gehen von sich ganz persönlich aus, werden in ihrem Nahbereich - Freundeskreis, Schule, Umweltgruppe - aktiv, häufig über soziale Netzwerke gesteuert, mit denen sie schließlich groß geworden sind. Sie stehen quasi für einen Aufbruch der Politik und warten darauf, dass von den Parteien ein Zeichen kommt. Das Dramatische ist, dass die Partei Die Piraten, die eigentlich diese neuen Themen und Techniken drauf hatte, es nicht geschafft hat, die jungen Leute mitzunehmen. Sie ist unter sich geblieben und hat diesen Transmissionsprozess nicht hinbekommen.
Kritiker haben die Dauervernetzung als fatal sowohl für Körper als auch Seele gegeißelt. Wie sieht es tatsächlich aus? Hurrelmann: Hier will ich den Blick auf die 40 Prozent werfen, über die wir bisher noch nicht gesprochen haben, nämlich diejenigen, die nicht diese hohe Bildung schaffen. Etwa die Hälfte davon ist richtig schlecht dran. Und das sind auch genau die jungen Leute, die auch mit den Angeboten der Medien nicht gut zurechtkommen, sich von ihnen überrollen lassen. Diese Gruppe schafft es nicht, wie die große Mehrheit, sich die Medien zunutze zu machen, sich die Welt mit ihnen zu erschließen, sondern das sind diejenigen, die viel zu viel und viel zu passiv konsumieren. Sie geraten in einen Strudel der Abhängigkeit hinein, werden am Ende von den Medien beherrscht. Bis hin zu einer Gruppe von 5 Prozent, die man als süchtig bezeichnen muss, weil sie jede Selbstkontrolle verloren haben.
Würde es sich angesichts des Fachkräftemangels nicht anbieten, diese Leute "abzuholen"? Hurrelmann: Ja, auf jeden Fall. Es hat lange gedauert, bis die Unternehmen aus der veränderten Marktsituation gelernt haben. Noch vor drei, vier Jahren konnten sie aus dem Vollen schöpfen, doch die Zeiten sind endgültig vorbei. Ich denke, die ersten sozial engagierten Unternehmen haben ihre Konsequenzen gezogen und fangen an, sich bewusst und gezielt um die etwas Schwächeren zu kümmern. Das betrifft die etwa 20 Prozent der eben genannten 40 Prozent-Gruppe. Bei den letzten 20 Prozent hingegen merkt man deutlich, dass wiederum vor allem die jungen Männer Sorgenkinder sind. Sie sind demotiviert, haben schlechte Kompetenzen. Da muss eine Firma schon kräftig investieren, um diese Leute ins Boot zu holen. Wenn das aber gelingt, dann können hier richtige Talente entdeckt werden. Unser duales Ausbildungssystem könnte das leisten, wenn die Lehrkräfte eine entsprechende Zusatzqualifikation haben. Das dauert natürlich alles länger, aber am Ende stehen Mitarbeiter, die dem Betrieb besonders verbunden sind.
Ist die Ungewissheit in puncto Job und Einkommen nicht schon bald überholt, wenn man an den immer häufiger angemahnten Fachkräftemangel denkt? Hurrelmann: Wenn die Lage so bleibt, auf jeden Fall. Man darf aber nicht vergessen, dass wir sozusagen eine Insel sind. Im Norden läuft es noch ganz gut, aber schaut man nach Westen, Süden oder Osten, dann trifft man auf Jugendliche, die immer noch sehr schlechte Perspektiven haben. Ansonsten würde sich die Generation Y auflösen, und die jungen Leute tatsächlich nur noch von der Wirtschaft umworben werden. Das glauben die jungen Leute aber noch nicht, und man kann sie eigentlich auch nur darin bestärken, vorsichtig zu sein. Wir haben die Erfahrung in den Shell Jugendstudien gemacht, dass so etwa fünf Jahre vergehen müssen, bis sich die Grundmentalitäten ändern. Aber Sie haben Recht, dass die heutigen Chancen schon deutlich besser sind.
Quelle: Das Interview führte Dietlinde Terjung - Landeszeitung Lüneburg (ots)