Christina Stresemann: Mein Großvater Gustav wäre sehr glücklich, wenn er das heutige Deutschland und das Grundgesetz sehen würde
Archivmeldung vom 23.05.2019
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Freigeschaltet durch André OttDie Bundesrichterin Christina Stresemann, Enkeltochter des Reichskanzlers Gustav Stresemann, würdigt in einem Interview die Bedeutung des Grundgesetzes.
Die Richterin am Bundesgerichtshof sagte der "Heilbronner Stimme": "Wir leben heute in einem demokratischen und liberalen Staat, haben Frieden und sind mit unseren Nachbarn innerhalb der Europäischen Union vielfältig verbunden. Mein Großvater Gustav Stresemann konnte vor 90 Jahren von einem solchen Deutschland nur träumen. Die Grundlage unserer Stabilität ist das Grundgesetz. Es steht heute als Sinnbild für Beständigkeit und wird als solches vom ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung sehr geschätzt. Wir sollten uns an Tagen wie diesem 23. Mai immer auch vergewissern, wie gut wir es in den vergangenen 70 Jahren hatten."
Ihr Großvater Gustav Stresemann wäre heute sehr glücklich. Christina Stresemann: "Sein größtes Anliegen war die Aussöhnung der Erzfeinde Frankreich und Deutschland. Heute kann sich doch niemand mehr vorstellen, dass diese beiden Nationen noch einmal gegeneinander Krieg führen. Er würde sich auch über die Stabilität und die Weltoffenheit Deutschlands freuen. Mein Großvater hat nach dem Ersten Weltkrieg viel für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund getan. Sein Ziel, Deutschland zu einem anerkannten Mitglied der Staatengemeinschaft zu machen, ist heute mit unserem Status in der UN erreicht. Ihm schwebte auch ein vereintes Europa vor, wenn er fragte: "Wo bleibt die europäische Münze? Wo die europäische Briefmarke?" Die gemeinsame Währung gibt es inzwischen. Mein Großvater wäre sehr glücklich, wenn er das heutige Deutschland und das Grundgesetz sehen würde."
Die Juristin betonte: "Das Grundgesetz ist in guter Verfassung, auch dank dem Bundesverfassungsgericht, dessen Arbeit man gar nicht hoch genug schätzen kann. Es kann von jedem Bürger angerufen werden, und es sorgt nicht nur für die Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen, sondern entwickelt die Grundrechte auch weiter."
Die Bewegung Fridays for Future könne sich auf das Grundgesetz berufen, sagte Stresemann: "Ich würde mir wünschen, dass Artikel 20a mehr in den Blick gerät, der den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen betrifft. Es heißt darin, dass der Staat in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere schützt. Das ist ein sogenanntes Staatsziel, aus dem man zwar keine unmittelbaren Rechte ableiten kann, aber es wäre zu wünschen, dass die Politik dieses Staatsziel ernster nähme." Die Bewegung Fridays for Future sei ihr sympathisch, "und ihre Sorgen sind allzu berechtigt. Das Artensterben nimmt rasant zu, den Klimawandel kann man nicht bestreiten. Wenn die Jugendlichen von Politikern mehr Aktivitäten fordern, haben sie das Grundgesetz in Form von Art. 20a auf ihrer Seite."
Über die Zukunft Europas sagte Christina Stresemann: "Ich kann die Sorge vieler Menschen vor einer zu starken EU-Zentralregierung nachvollziehen. In Deutschland haben wir gute Erfahrungen mit dem Föderalismus und dezentraler Verwaltung gemacht und sehr schlechte mit dem Zentralstaat. Der französische Präsident Charles de Gaulle hat vom "Europa der Vaterländer" gesprochen, d.h. dass die Einzelstaaten ihre Identität behalten. Das wünschen sich sicherlich viele Bürger. Je mehr Kompetenzen auf die EU übergehen, desto stärker wird dagegen das Gefühl, an nationaler Identität und an Einfluss zu verlieren. Freiheit, Frieden und Wohlstand in Europa sind nicht davon abhängig, dass alles in Brüssel entschieden wird." Sie fügte hinzu: "Ich bin eine große Anhängerin der europäischen Idee, aber wir müssen auch kritische Fragen zulassen; wer die EU kritisiert, ist deshalb noch lange kein Feind der europäischen Einigung." Auf die Frage, ob eine europäische Verfassung notwendig wäre, sagte Stresemann: "»Vereinigte Staaten von Europa« bräuchten tatsächlich eine Verfassung. Aber wir brauchen zunächst eine Debatte und eine Entscheidung darüber, wohin die EU eigentlich steuern soll."
INFO: Dr. Christina Stresemann (61) ist seit 2003 Richterin am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Von 2004 bis 2012 war Stresemann auch Richterin am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. Stresemann ist die Tochter des deutschen Dirigenten Wolfgang Stresemann und der US-amerikanischen Pianistin Mary Jean Stresemann. Ihr Großvater väterlicherseits war der Politiker Gustav Stresemann (1878 bis 1929), Politiker und Staatsmann der Weimarer Republik, der 1923 Reichskanzler und danach bis zu seinem Tod Reichsminister des Auswärtigen war. Er trug zur Verbesserung der Beziehung mit Frankreich bei. 1926 erhielt er zusammen mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand den Friedensnobelpreis.
Quelle: Heilbronner Stimme (ots)