Interview mit der Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer (Grüne) über Arbeitsmarktpolitik und das schwarz-grüne Bündnis in Hamburg
Archivmeldung vom 25.04.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Grünen wollen neben dem Bereich Umweltpolitik vor allem mit arbeitsmarktpolitischen Themen in die kommenden Wahlkämpfe ziehen. Joschka Fischer, einstige Galionsfigur der Grünen, geht davon aus, dass sich die Partei als ,,entscheidender Veränderungsfaktor des deutschen Parteiensys"tems" erweisen wird.
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer ist da etwas zurückhaltender. ,,Wir sind in einer interessanten Situation", sagte sie in einem Gespräch mit unserer Zeitung. Sie würde sich darüber freuen, wenn es mit der schwarz-grünen Koalition in Hamburg klappt. Auch bei künftigen derartigen Koalitionen sei es aber entscheidend, wie viel grüne Politik durchsetzbar ist.
Jahrzehntelang war Vollbeschäftigung das oberste Ziel für
Arbeitsmarktpolitik, Mitte der 90er-Jahre wurde es dann sehr ruhig um
dieses Thema, doch jetzt ist es wieder aktuell. Glauben Sie, dass
Vollbeschäftigung in naher Zukunft erreicht werden kann?
Brigitte
Pothmer: Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es möglich ist, der
Vollbeschäftigung nahe zu kommen. Das belegen Beispiele in
europäischen Nachbarländern. In Dänemark und Schweden herrscht
beispielsweise Vollbeschäftigung. Die werben sogar inzwischen bei uns
um Fachkräfte. Die moderne Industriegesellschaft ist also prinzipiell
in der Lage, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Das setzt aber die
richtigen politischen Rahmenbedingungen voraus. Die Chancen dafür
stehen in Deutschland allerdings im Moment nicht gut. Die Große
Koalition hat es versäumt, den Aufschwung für dringend notwendige
Strukturveränderungen zu nutzen. Sie ist nur Trittbrettfahrerin der
guten Konjunktur.
Hilft nicht auch der demographische Wandel beim Erreichen der
Vollbeschäftigung?
Pothmer: Nein, der demographische Wandel wird das
Problem nicht lösen. Alle Experten sagen voraus, dass wir es weiter
mit einem geteilten Arbeitsmarkt zu tun haben werden. Auf der einen
Seite wird es einen Anstieg des Fachkräftemangels geben, auf der
anderen Seite einen Anstieg von Arbeitslosen, die schlecht
qualifiziert sind. Für diese Gruppe gibt es in Deutschland nicht mehr
genügend Arbeitsplätze. Deswegen muss man jetzt alles tun, um sie zu
qualifizieren.
Das Bundesministerium für Arbeit, die Bundesagentur für Arbeit und der Deutsche Städtetag bezeichnen die Hartz-IV-Reformen als Erfolg, denn seit Inkrafttreten am 1. Januar 2005 sank die Zahl der Arbeitslosen um 1,7 Millionen. Sind die Reformen Ihrer Meinung nach ein Erfolg?
Pothmer: Die Hartz-Reformen haben Licht und Schatten.
Dass wir 1,7 Millionen Arbeitslose weniger haben, hat sicher damit zu
tun, dass die Vermittlungsbemühungen verbessert worden sind. Aber in
erster Linie hat der Konjunkturaufschwung zur Reduzierung der
Arbeitslosenzahl beigetragen.
Die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt wäre also auch ohne
Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe möglich gewesen?
Pothmer: Nein, gerade die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe war ein richtiger Fortschritt insbesondere für die
Sozialhilfeempfänger, denn die haben jetzt auch endlich Anspruch auf
Vermittlung, Qualifizierung und Förderung. Diese Gruppe wurde bisher
einfach links liegen gelassen. Davon profitieren vor allem Frauen.
Die dürfen jetzt nicht länger mit Sozialhilfe abgespeist werden.
Insofern hat Hartz IV an dieser Stelle einen positiven Beitrag
geleistet. Ich finde es nur vermessen, so zu tun, als wenn die
Reformen für den Aufschwung am Arbeitsmarkt verantwortlich sind.
Aber seit 2005 haben auch 700000 Langzeitarbeitslose wieder einen Job
bekommen.
Pothmer: Ja, und das ist auch gut so. Aber ich gebe zu
bedenken, dass bei einem Abschwung vermutlich genau diese Menschen
als erste befürchten müssen, wieder arbeitslos zu werden. Außerdem
sind nach wie vor 2,4 Millionen arbeitslose Menschen von
Arbeitslosengeld II abhängig.
Laut dem Institut für Wirtschaftsforschung in Halle werden künftig
immer mehr Arbeitnehmer einen Zweitjob benötigen, um ihren
Lebensunterhalt zu finanzieren. Schuld daran sind die eher moderaten
Einkommenserhöhungen und vor allem die stark gestiegenen
Lebenshaltungskosten.
Was kann, was sollte der Staat tun, um hier
gegenzusteuern?
Pothmer: Während die Einkommen der Besserverdienenden
angestiegen sind, haben die Geringverdiener real weniger Geld in der
Tasche. Deswegen brauchen wir Mindestlöhne. Und wir müssen das
progressive System, das bei der Steuer gilt, auch auf die
Sozialversicherungsbeiträge anwenden. Dann zahlen Geringverdiener
prozentual geringere Beiträge als Gutverdiener und haben damit mehr
netto in der Tasche. Darüber hinaus müssen auch die Regelsätzen des
Sozialgesetzbuches II angepasst werden. Menschen mit geringen
Einkommen geben ihr Geld weitestgehend für Nahrungsmittel und
Energiekosten aus. Diese Kosten müssen bei der Neuberechnung der
Regelsätze anders berücksichtigt werden. Eine durchschnittliche
Inflationsrate von drei Prozent für alle bedeutet für
Geringverdiener, dass sie rund sechs Prozent zu verkraften haben. Das
muss auch über eine Neuberechnung der Regelsätze ausgeglichen werden.
Die Regelsätze sind gerade angehoben worden. Zudem ist gerade die
Anhebung des Wohngeldes beschlossen.
Reicht das nicht aus?
Pothmer:
Die Regelsätze sind im Juli vergangenen Jahres um 2 Euro angehoben
worden. Damit sind die Preissteigerungen bei weitem nicht
ausgeglichen. Und die Anhebung des Wohngeldes haben die Grünen schon
lange gefordert, weil Mieten plus Nebenkosten und nicht nur die
Kaltmieten finanziert werden müssen. Insofern sind wir froh, dass das
Bundeskabinett in diese Richtung marschiert. Aber wir müssen
abwarten, was am Ende wirklich dabei herauskommt.
Sind Mindestlöhne nicht beschäftigungsfeindlich -- wie es die meisten
Wirtschaftsinstitute behaupten?
Pothmer: Die Wirtschaftsinstitute
sind nicht in der Lage diese Behauptung auch nur ansatzweise
empirisch zu belegen. In den meisten Nachbarländern, die auch in
wirtschaftlicher Hinsicht mit Deutschland vergleichbar sind, gibt es
Mindestlöhne. In Großbritannien etwa hat das nicht zu einem Verlust
von Arbeitsplätzen geführt, sondern zum Gegenteil. Durch die bessere
Binnenkonjunktur sind zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. In den
Mindestlohndebatten im Bundestag kommt von den Mindestlohnblockierern
viel Ideologie aber kein Argument. CDU und FDP bleiben hier wirklich
unter ihrem intellektuellen Niveau.
Das Beispiel der pleite gegangenen PIN-Group wird gerne
herangezogen...
Pothmer: PIN hatte schon wirtschaftliche
Schwierigkeiten, lange bevor es um die Einführung der Mindestlöhne
ging. Wenn PIN mit Ausbeutungslöhnen kalkuliert hat, dann war das
eine Fehlkalkulation und die Pleite ist verständlich. Im Briefsektor
herrscht ein harter Verdrängungswettbewerb. Ohne Mindestlöhne würden
hier ordentlich bezahlte Arbeitsplätze durch Billigjobs ersetzt.
Senkung der Lohnnebenkosten, mehr Wohngeld, Hartz-IV-Aufstockung,
höherer Kinderzuschlag -- das ist im Prinzip Verteilungspolitik.
Sollte der Staat nicht besser noch stärker in Bildung investieren,
weil nur eine gute Ausbildung dafür sorgen kann, dass man nicht in
den Armutsbereich abrutscht?
Pothmer: Unser Anti-Armuts-Programm
umfasst ein breites Spektrum von Maßnahmen. Ganz oben steht, dass wir
die Infrastruktur für frühkindliche Förderung und Bildung verbessern
wollen, damit Armut sich nicht immer weiter ,,vererbt". Es kann nicht
richtig sein, dass Schulen davon ausgehen, dass Eltern quasi
Nachhilfelehrer sind. Da, wo die Eltern dies nicht können, sind die
Kinder extrem benachteiligt. Man muss auch wissen, dass ein zu
geringes Einkommen Ausgrenzung zur Folge haben kann: Wenn ein Kind
sich nicht mehr traut, zum Kindergeburtstag zu gehen, weil es nicht
in der Lage ist, ein Geschenk mitzubringen; wenn es nicht mit ins
Kino gehen kann, wenn es sich das Schulessen nicht leisten kann,
findet Ausgrenzung statt. Wir wollen eine Infrastruktur schaffen, die
Kindern gleiche Startchancen ermöglicht. Dafür braucht man Geld, das
an anderer Stelle erwirtschaftet werden muss, beispielsweise durch
Eindämmung von Steuerbetrug, durch Änderungen beim Ehegattensplitting
oder über eine höhere Besteuerung sehr großer Erbschaften.
Der Ausbau der Kinderbetreuung verschlingt schon vier Milliarden
Euro. Worauf soll sich der Staat in erster Linie konzentrieren:
geringere Lohnnebenkosten oder weitere Bildungsinvestitionen?
Pothmer: Für mich hat die Stärkung der Bildungsinfra"struktur
Priorität. Denn bei den Lohnkosten stehen wir im Vergleich zu anderen
Staaten inzwischen viel besser da als immer behauptet wird. Das ist
auch ein Grund dafür, dass wir seit langem Exportweltmeister sind.
Damit das so bleibt, brauchen wir vor allem eines: qualifizierte
Arbeitnehmer. Und die gibt es nur durch bessere Bildung.
In Deutschland gibt es eine Renaissance des Sozialismus.
Die
Programme von SPD, Grünen und Linken gleichen sich in vielen
Bereichen an. Doch jetzt gibt es plötzlich eine schwarz-grüne
Koalition in Hamburg. Was sagen denn die Grünen außerhalb Hamburgs
dazu?
Pothmer: Für uns ist entscheidend, wie viel grüne Politik wir
durchsetzen können. Die Grünen sind in einer inte"ressanten
Situation. Die SPD befindet sich in einer schwierigen Lage, mit
schwachen Wahlergebnissen, unentschiedenen Richtungskämpfen und
ungeklärten Führungsfragen. Eine Orientierung allein auf die SPD ist
von daher nicht vertretbar. Ich finde es richtig, den Versuch mit der
CDU zu wagen. Es wird sich zeigen, was mit denen geht und was nicht.
Es ist viel Bewegung in die Parteienlandschaft gekommen. Selbst die
FDP beginnt darüber nachzudenken, ob es richtig war, sich auf Gedeih
und Verderb an die CDU zu ketten, wenn die CDU im Zweifel sagt, die
Grünen sind auch ein interessanter Koalitionspartner für uns.
Ist der Hamburger Koalitionsvertrag zu schwarz und zu wenig grün oder
glauben Sie, dass die GAL-Basis am Sonntag dem Vertrag problemlos
zustimmen wird?
Pothmer: Problemlos wird da gar nichts gehen. So eine
Entscheidung muss gut durchdacht sein und die Argumente für ein
Zusammengehen müssen stimmen. Ich glaube, die Hamburger Grünen haben
es sich wirklich nicht leicht gemacht und sind weit davon entfernt,
sich einfach nur in ein schnelles Abenteuer zu stürzen. Die CDU
musste sich in der Schulpolitik bewegen, es gibt Chancen, das
Kohlekraftwerk in Moorburg zu verhindern, die Studiengebühren wurden
entschärft und andere soziale und ökologische Fortschritte sind
vertraglich vereinbart. Ich glaube, es gibt berechtigte Aussichten,
dass die GAL-Basis dieses Verhandlungsergebnis anerkennt. Mich würde
das freuen.
Das Interview führte Werner Kolbe
Quelle: Landeszeitung Lüneburg