Psychologe gegen „Stigmatisierung der AfD-Wähler“
Archivmeldung vom 30.09.2017
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBerichten zufolge ist der typische AfD-Wähler: Arbeiter, männlich, ostdeutsch und eher mit seiner Lage unzufrieden. Diese Darstellung ist für den Psychologen Daniel Witzeling zu einfach, der Hintergrund sei in der Hochleistungsgesellschaft und zerfallenden Rollenbildern zu suchen.
Im Beitrag der deutschen Ausgabe des russischen online Magazins "Sputnik" heißt es dazu weiter: "In Ostsachsen haben im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands die meisten Menschen die AfD gewählt – allen voran die Männer. Infratest dimap gibt 26 Prozent für die Männer und 17 Prozent für die Frauen an. Daraus folgt für RP Online, der typische AfD-Wähler sei: Arbeiter, männlich, ostdeutsch. Das mag zutreffen. Doch was treibt ihn eigentlich an? Ist es die wirtschaftliche Lage? Oder ist es die Frauenflucht, von der die Medien seit 1990 berichten? Reichen sich hier wirtschaftliche und sexuelle Frustration die Hände?
Der AfD-Wähler wird vereinfacht dargestellt
Das Bild von RP Online bezeichnet der Psychologe Daniel Witzeling als „ein sehr simplifiziertes Bild, um den AfD-Wähler zu stigmatisieren, um zu sagen, dass er ein rückentwickelter Mensch sei, ein Fortschrittsverlierer“. Gegen diese Einschätzung spreche für ihn die Tatsache, dass die AfD von Uni-Professoren gegründet worden sei und einige Akademiker auch in der Wählerschaft aufzuweisen habe.
Auch dass die Mehrzahl der Wähler Männer sind, führt Witzeling nicht auf Frauenmangel zurück, sondern darauf, dass „Männer emotional impulsiver wählen bei den Wahlen und die Frauen im Unterschied dazu vorsichtiger sind“. Das Wahlverhalten der Frauen könnte sich bei gleichbleibender wirtschaftlicher Lage ebenfalls Richtung AfD ändern.
Das Phänomen ist für den Psychologen mehrschichtiger, habe aber im weitesten Sinne mit einer „Auflösung der Rollenbilder“ zu tun. Kein sicherer Job, erschwerte Frauensuche und dass man kein Alleinernährer sein kann – diese Faktoren führten beim Mann zum Verlust des Sicherheitsgefühls und zur Frustration, erklärt Witzeling. Man würde die AfD also „als letzten Hoffnungsschimmer“, in der Hoffnung auf klarere Regeln und vorgelebte Rollenbilder in einer sehr dynamischen Welt wählen.
Und was haben die Migranten damit zu tun?
Die Rollenbilder zerfallen, an ihre Stelle rücken neue Spielregeln und deren Ballast überlastet zuweilen den Typus, der dann zum AfD-Wähler wird. „Die Einengung durch eine modernisierte Hochleistungsgesellschaft ist für Männer wie auch Frauen schwierig“, merkt Witzeling an. Demgegenüber gebe es das Klischee des Südländers, der „einen lockeren Tagesablauf“ habe und mehr Genuss aus dem Leben ziehe. Müssen die Flüchtlinge am Ende bei AfD-Wählern also als Sündenbock für eine Identitätskrise einstehen, die eigentlich der Europäer durchmacht?
Frau und Mann würden sich angesichts der immer dynamischer werdenden Welt „nach alten Mustern“ zurücksehnen: Hörner abstoßen, Konkurrenzkampf, das Ausloten von Grenzen – das gehöre zu einer männlichen Entwicklung dazu. Eine „geschlechtliche Vereinheitlichung“ dagegen hindere den Menschen an seiner natürlichen Entwicklung. Und: „Auch die Frau hätte gern das natürlich Männliche wieder, was vielen Männern oft auch aberzogen wird durch Regeln und Angst vor sexueller Belästigung“, erklärt Witzeling. So erkläre sich der Sextourismus europäischer Frauen nach Afrika, der im Film „Paradies Liebe“ des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl abgebildet wird. „Dahinter steht die Sehnsucht nach Emotionen, nach Geborgenheit“, erklärt der Psychologe. Das habe nichts mit Ausländern zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, die „sehr kalt geworden ist“.
Wie könnte man weitermachen?
Und was tut man jetzt? Neue Rollenbilder konstruieren? Geschlechter überwinden? Witzeling hat eine genauso einfache wie schwere Lösung im Kopf: Man müsse jedem die Möglichkeit für seine natürliche Entwicklung geben. „Die Toleranz, die für Flüchtlinge eingefordert wird, die für gegengeschlechtliche oder gleichgeschlechtliche Liebe gefordert wird, sollte wirklich für alle Modelle gleichermaßen gelten und niemand diskriminiert werden“, so der Psychologe.
Zur Entwicklung zähle auch der eine oder andere Fehltritt. Aber stigmatisiert gehöre deswegen der „Rambotyp“ Mann noch nicht, denn dieser könnte nach einem Prozess der Reifung seine „Stärke für das Positive in der Gesellschaft einsetzen.“ Menschen müssten die Chance haben, ihren eigenen Weg der Entwicklung zu finden und nicht gleich in Rollenklischees gepresst werden, so Witzeling. Das Hauptproblem seien dagegen für ihn „falsche Rollenverständnisse, die zu einem Ziel führen, das diese Menschen gar nicht suchen“."
Quelle: Sputnik (Deutschland)