Bundestagswahl 2017: Wie Wahlumfragen wirken – auf Journalisten und Wähler
Archivmeldung vom 20.09.2017
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMedien berichten in Deutschland immer häufiger über Wahlumfragen. Journalisten sehen deren Vorteile, befürchten aber auch negative Konsequenzen für das Wählerverhalten. Aber der Großteil der Wähler lässt sich nicht von Umfragen beeinflussen. Taktische Wähler hingegen nutzen Wahlumfragen – dies ist vor allem für die FDP und die Grünen wichtig. Die vergleichsweise kleine Gruppe der taktischen Wähler ist überdurchschnittlich politisch interessiert, formal höher gebildet und deshalb auch in der Lage, kritisch mit Informationen aus den Medien umzugehen. Das ist das Ergebnis umfangreicher empirischer Analysen, die jetzt an der Universität Hohenheim vorgelegt wurden.
Im September 2017 befragten Prof. Dr. Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Hohenheim, und sein Team die 862 Mitglieder der Bundespressekonferenz nach ihren Einstellungen zu Wahlumfragen (25% haben sich an der Umfrage beteiligt). Außerdem wurde für die Bundestagswahlen 1980 bis 2013 die Medienberichterstattung in den jeweils drei Monaten vor der Bundestagswahl inhaltsanalytisch untersucht (insgesamt 2.550 Artikel in vier überregionalen Tageszeitungen). Und für die Bundestagswahlen 1980 bis 2002 wurde anhand repräsentativer Wahlumfragen die Wirkung veröffentlichter Umfrageergebnisse auf die Wählerinnen und Wähler analysiert.
Im Mittelpunkt stehen drei Fragen:
1. Was denken Journalisten über Wahlumfragen?
2. Wie wird über Wahlumfragen berichtet?
3. Wie wirken sich Berichte über Wahlumfragen auf das Wählerverhalten aus?
Wie hat sich Berichterstattung über Wahlumfragen entwickelt
Prof. Dr. Brettschneider: „Umfrageberichterstattung nimmt stark zu. Zwischen 1980 und 2013 hat sich die Berichterstattung über Wahlumfragen verfünffacht. Wahlumfragen gehören inzwischen zum Standardrepertoire der Medienberichterstattung über Wahlen. Wahlumfragen haben einen hohen Nachrichtenwert – nämlich bereits vor der Wahl abschätzen zu können, wer die Wahl gewinnen wird. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen die „Sonntagsfrage“ und die Kandidatenbeurteilungen.“
„Das Potenzial von Umfragen, etwas über die Motive von Wählern zu erfahren, wird hingegen seltener ausgeschöpft“, so Prof. Dr. Brettschneider weiter. Zu den methodischen Details in der Berichterstattung: Das Umfrageinstitut wird in fast allen Artikeln bzw. Beiträgen erwähnt, der Auftraggeber der Umfrage und der Fragewortlaut werden in über 50 Prozent der Artikel bzw. Beiträge genannt. Die statistische Fehlerspanne und die Art der Befragung (telefonisch, Face-to-Face, online) erfahren die Rezipienten hingegen nur sehr selten.“
Wie gehen Journalistinnen und Journalisten mit Umfragen um?
Prof. Dr. Brettschneider: „Journalisten arbeiten mit Umfragen, sehen aber negative Konsequenzen für das Wählerverhalten. 30 Prozent der Bundespressekonferenzmitglieder verwenden Umfragen „häufig“ als Zusatzinformation in der politischen Berichterstattung, 48 Prozent greifen „manchmal“ auf Umfragen zurück, 22 Prozent arbeiten „selten“ oder „nie“ mit Umfragen. 46 Prozent der Bundespressekonferenzmitglieder glauben, dass ihre Kollegen der Verwendung von Umfrageergebnissen in der Berichterstattung positiv gegenüber stehen. 55 Prozent bezeichnen Umfragen für die Arbeit der Journalisten als „eher hilfreich“. 63 Prozent sind überzeugt davon, dass man mit Hilfe von Umfragen die Einstellungen der Bevölkerung zu politischen Themen, zu Parteien und zu Politikern messen kann.“
„Allerdings glauben auch 85 Prozent der Bundespressekonferenzmitglieder, dass sich die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen auf das Wählerverhalten auswirkt“, so Prof. Dr. Brettschneider. „Am häufigsten nennen sie die Mobilisierung, den Mitläufer-Effekt und das taktische Wählen. Davon halten 47 Prozent diesen Einfluss für „negativ“, nur acht Prozent finden ihn „positiv“. Diejenigen, die den Einfluss als „negativ“ empfinden, sprechen sich zu 90 Prozent für ein Veröffentlichungsverbot in der letzten Woche vor der Wahl aus.“
Nehmen die Wähler die Wahlumfragen überhaupt wahr?
Prof. Dr. Brettschneider: „Wahlumfragen werden fast von allen Wählern wahrgenommen. Sie stoßen aber vor allem bei politisch interessierten Menschen auf Interesse. Mit der zunehmenden Berichterstattung über Wahlumfragen wächst auch der Anteil der Bevölkerung, der Umfrageergebnisse vor Wahlen wahrnimmt. Zwischen 1957 und 2002 hat sich dieser Anteil von 17 auf 75 Prozent vervielfacht.“
Auf starkes Interesse stoßen Umfragen vor allem bei den „Campaign-Junkies“. Diese nehmen alle Informationen über den Wahlkampf auf, die ihnen zur Verfügung stehen“, sagt Prof. Dr. Brettschneider. „ Sie sind politisch sehr interessiert und gehören zu den formal besser Gebildeten. Vor allem aber handelt es sich bei ihnen um Personen mit überdurchschnittlich ausgeprägter Parteiidentifikation mithin um Menschen, die aufgrund ihrer verhältnismäßig festen Bindung an eine Partei kaum für Manipulationen durch Umfragen anfällig sind.“
Beeinflussen Wahlumfragen die Wahlbeteiligung?
Prof. Dr. Brettschneider: „Die von Politikern, Journalisten und auch Wissenschaftlern geäußerten Wirkungsvermutungen lassen sich in zwei große Gruppen unterteilen: vermutete Umfrageeffekte auf die Wahlbeteiligung und vermutete Umfrageeffekte auf die Stimmabgabe für eine bestimmte Partei. Folgende Auswirkungen veröffentlichter Umfrageergebnisse auf die Wahlbeteiligung werden vermutet:
• Mobilisierungseffekt: Bei einem erwarteten knappen Wahlausgang werden die Wahlberechtigten zur Teilnahme an der Wahl angespornt, weil ihre einzelne Stimme ausschlaggebend sein könnte. Die mobilisierende Wirkung ist sehr plausibel.
• Defätismuseffekt: Scheint der Wahlausgang bereits festzustehen, bleiben die Anhänger des vermeintlichen Wahlverlierers der Wahl fern, weil ihre Niederlage ohnehin schon festzustehen scheint. Frustration macht sich breit.
• Lethargieeffekt: Scheint der Wahlausgang bereits festzustehen, bleiben die Anhänger des vermeintlichen Wahlsiegers der Wahl fern, weil ihr Wahlerfolg ohnehin schon festzustehen scheint. Trägheit macht sich breit.
• Bequemlichkeitseffekt: Scheint der Wahlausgang bereits festzustehen, bleiben die noch unentschlossenen Wahlberechtigten der Wahl fern, weil ihre Stimme keinen Einfluss mehr hat. Der mangelnde Nutzen rechtfertigt ihre Informations- und Handlungskosten nicht.
Die drei zuletzt genannten Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung wurden bislang weder in Deutschland noch in den USA – wo sie aufgrund des „Western Voting“ umfangreicher und besser untersucht wurden – nachgewiesen.“
Beeinflussen Wahlumfragen die Stimmabgabe der Wählerinnen und Wähler?
Zu den Auswirkungen auf die Stimmabgabe werden zwei Vermutungen angestellt:
• Bandwagon- bzw. Mitläufereffekt: Die Wähler wollen auf der Siegerseite stehen und entscheiden sich daher für die in Umfragen führende Partei.
• Underdog- bzw. Mitleidseffekt: Die Wähler schlagen sich auf die Seite der in Umfragen zurückliegenden Partei.
Auch diese Effekte lassen sich weder in Deutschland noch in den USA nachweisen.
Aber Umfragen sind für taktische Wähler wichtig. Das betrifft vor allem Wählerinnen und Wähler der FDP und der Grünen. Nach den Bundestagswahlen 1983, 1987 und 1994 gaben ein Viertel bis ein Drittel derjenigen Wähler, die Wahlumfragen wahrgenommen hatten, an, diese hätten für ihre Stimmabgabe eine Rolle gespielt. Und nach der Bundestagswahl 1990 sagten 14 Prozent der Wähler, die Umfrageergebnisse wahrgenommen hatten, sie seien durch diese beeinflusst worden. Nach der Bundestagswahl 2002 gaben dies acht Prozent an. Die Wirkungen ergeben sich aus dem Verhältniswahlrecht und der Fünf-Prozent-Klausel. Sie betreffen eher die Wähler der kleinen Parteien sowie einige Wähler ihrer potentiellen Koalitionspartner.
Zwei Annahmen werden diskutiert:
• Fallbeileffekt: Eine Person wählt die von ihr präferierte Partei nur dann, wenn sie Chancen auf den Einzug in den Deutschen Bundestag hat. Hat sie dagegen keine Aussicht auf Erfolg, wäre ihre Stimme „verloren“, d.h. sie bliebe bei der Mandatsverteilung im Bundestag unberücksichtigt. Möglicherweise scheitert also eine Partei an der Fünf-Prozent-Hürde, weil ihre potentiellen Wähler aufgrund von Meinungsumfragen annehmen, sie würde den Einzug in den Bundestag nicht schaffen. Wenn Umfragen hingegen einen wahrscheinlichen Erfolg anzeigen, erhielte sie tatsächlich mehr als fünf Prozent der Stimmen.
• Taktisches Wählen / Koalitionswählen: Auch beim taktischen oder Koalitionswählen erhält eine andere als die präferierte Partei die Stimme. Beispielsweise können sich Anhänger einer Volkspartei für den kleineren Koalitionspartner entscheiden, damit dieser die Fünf-Prozent-Hürde nimmt und eine Mehrheit für die gewünschte Koalition zustande kommt. Bei den Bundestagswahlen 1983 und 1994 wurde dieses Verhalten als „Leihstimmen“-Wählen bezeichnet: CDU-Anhänger haben die FDP gewählt, um deren Einzug in den Bundestag und damit eine Fortsetzung der Koalition sicherzustellen.
Tatsächlich haben Umfrageergebnisse vor allem bei den Bundestagswahlen 1983 und 1994, als der Einzug der Liberalen eher als ungewiss galt, für die FDP-Wähler eine besondere Rolle gespielt. Etwa die Hälfte der FDP-Wähler, die Umfragen wahrgenommen hatten, ließ sich durch diese auch beeinflussen. Auch für die Unions-Wähler waren sie von gewisser Bedeutung, was vermuten lässt, dass einige von ihnen taktisch gewählt haben.“
Quelle: Universität Hohenheim (idw)