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Dr. Ulrich Schneider über Integration von Flüchtlingen: Alte Werte braucht das Land

Archivmeldung vom 16.10.2015

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 16.10.2015 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Guenter Hamich / pixelio.de
Bild: Guenter Hamich / pixelio.de

Der Experte Dr. Ulrich Schneider über die Voraussetzungen für das Gelingen der Integration von Flüchtlingen Der anhaltene Zustrom von Flüchtlingen sorgt für erbitterte politische Diskussionen. Das Asylrecht wird verschärft, gleichzeitig sind Kommunen und soziale Einrichtungen überfordert. "Wir werden nicht um Steuererhöhungen herumkommen", betont Dr. Ulrich Schneider. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes fordert im Gespräch mit unserer Zeitung zugleich eine neue Wertediskussion in der sozialen Arbeit.

Herr Dr. Schneider, trotz des steigenden Drucks aus den eigenen Reihen bleibt die Kanzlerin in der Diskussion über die Flüchtlingskrise dabei: Wir schaffen das! Schaffen das auch die sozialen Einrichtungen in Deutschland?

Dr. Ulrich Schneider: Nicht ohne zusätzliche Hilfe. Klar ist, dass wir in den kommenden Jahren zwischen ein und zwei Millionen Menschen in Deutschland integrieren müssen. Dazu brauchen wir zusätzliche Angebote unter anderem in den Bereichen Schule, Hochschule, psychologische Zentren zur Trauma-Behandlung, Sprachkurse, Jugendsozialarbeit oder berufliche Qualifizierung. Allein im Bereich der Vorschuleinrichtungen sind es etwa 68 000 Kinder, die zusätzlich aufgenommen werden müssen. Das führt dazu, dass wir mehr Erzieherinnen brauchen, wenn die Gruppengrößen nicht explodieren sollen. Die Gewerkschaft ver.di rechnet mit 2,7 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich an Personalkosten allen im Vorschulbereich. Wir haben 200 000 zusätzliche Kinder, die jetzt eingeschult werden müssen, die plötzlich da sind. Wenn wir die Klassen nicht drastisch vergrößern wollen, wenn es nicht auf Kosten der Qualität gehen soll in unseren Schulen, brauchen wir mehr Lehrer und mehr Räume. Die sozialen Einrichtungen und die Bildungseinrichtungen können das schaffen, wenn der Staat die notwendigen Gelder zur Verfügung stellt.

Das Geld ist vorhanden, nur das Personal nicht. Kann man das so verkürzt sagen? Schneider: Das Geld ist vorhanden - nur bei den falschen Leuten, wie Heiner Geißler vor zwei Monaten sagte. Deutschland ist das viertreichste Land der Welt. Wenn wir es nicht schaffen, wer dann? Wir haben auf privaten Konten der Deutschen ein Privatvermögen von mehr als fünf Billionen Euro. Auch wenn es nicht die Blaupause für das Gelingen der Integration ist: Wir werden nicht um Steuererhöhungen herumkommen, um die öffentlichen Kassen zu stärken und das soziale Netz auch für die Menschen zu spannen, die zu uns gekommen sind.

Bezahlbarer Wohnraum wird immer mehr zur Mangelware in Deutschland. Befürchten Sie eine gefährliche Zunahme des Konkurrenzdenkens?

Schneider: Wir haben den sozialen Wohnungsbau in den vergangenen Jahren extrem heruntergefahren. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass wir in diesem Bereich mehr tun müssen. In Deutschland gibt es schon lange einen Verdrängungswettbewerb. Die Flüchtlinge werden gerade da, wo es um billigsten Wohnraum geht, zu noch mehr Verdrängungswettbewerb führen. Hier ist der Staat gefordert, über sehr raschen sozialen Wohnungsraum dafür zu sorgen, dass alle Menschen eine bezahlbare und vernünftige Wohnung bekommen.

Das ist aber ein Zeitraum von mehreren Jahren - genauso wie die Ausbildung von genügend Fachkräften. Sind wir nicht viel zu spät dran damit?

Schneider: Ich halte nichts von dem Vorwurf an die Politiker, dass man doch alles hätte vorhersehen müssen. Für die meisten Bürger sind die Flüchtlinge relativ plötzlich da. Wir müssen jetzt erheblich improvisieren und sehen, wie wir Wohnungen schneller bauen können als üblich, wie wir Planungsverfahren verschlanken können. Auch wir im sozialen Sektor müssen zusehen, wie wir schnell an zusätzliche Kräfte im Sozialbereich kommen, auch wenn sie vielleicht noch nicht die Qualifikation mitbringen. Vielleicht sollte dazu auch einfach im Betrieb ausgebildet werden können wie in der Wirtschaft. Aber am Ende wird entscheidend sein, ob das nötige Geld dafür vorhanden ist.

Sollten Flüchtlinge so schnell wie möglich arbeiten dürfen?

Schneider: Ja. Da sind sich alle einig in Deutschland - vom Handwerk bis zur Industrie. Es ist unsinnig, wenn wir gut ausgebildete Menschen in Erstaufnahmelagern zum Nichtstun verdammen. Ich denke, wir sollten auch hier über vereinfachte Lösungen nachdenken, Wir sollten nicht über sichere, sondern über unsichere Herkunftsländer nachdenken. Wenn man weiß, hier kommt jemand aus Syrien, sollte es stark vereinfachte Verfahren geben, und sehr schnell sollten die Menschen arbeiten können. Das würde allen guttun.

Muss der Sozialstaat Deutschland nur angepasst oder gar umgebaut werden?

Schneider: Völlig unabhängig von der Flüchtlingsfrage denke ich, dass wir um einen Umbau der Finanzierung nicht herumkommen. In vielen Bereichen macht es keinen Sinn mehr, dass wir diesen Sozialstaat noch so finanzieren wie zu Bismarcks Zeiten, wo man ohne große Produktivitätssprünge nur nachgerechnet hat, wie viel Geld die Arbeiter in die Kassen einzahlen müssen. Heute machen eine kleine Werbeagentur oder eine kleine Notars-Kanzlei deutlich mehr Gewinne als ein Produktionsbetrieb mit 20 Mitarbeitern. Wir müssen also über die Finanzierung des Sozialstaats neu nachdenken.

Was halten Sie vom immer mal wieder diskutierten, bedingungslosen Grundeinkommen für alle Bürger?

Schneider: Es ist erst einmal sympathisch, weil es von einem grundsätzlich positiven Menschenbild ausgeht, von Menschen, die von Grund auf kreativ und fleißig sind. Hartz IV geht dagegen davon aus, dass Menschen von Natur aus faul sind und dazu angehalten werden müssen, zu arbeiten. Dem System des bedingungslosen Grundeinkommens stehen aber so große Widerstände entgegen, dass dessen Umsetzung derzeit gänzlich unrealistisch ist.

Sie fordern unter anderem eine neue Wertediskussion in der sozialen Arbeit. Kann man eine solche Diskussion losgelöst von einer Diskussion über allgemeine Werte in der Gesellschaft führen?

Schneider: Nein. Wir haben in den vergangenen 25 Jahren nicht nur ein Rollback des Neoliberalismus erlebt, sondern auch ein Verschwinden der Werte. Werte, die über Jahrzehnte unsere Gesellschaft getragen haben. Da wäre zum Beispiel der Wert Treue. Früher gab es für Mitarbeiter, die 25 Jahre in einem Betrieb gearbeitet haben, einen Treueorden vom Bundespräsidenten. Wir haben es in den 90er-Jahren geschafft, dass wir einen Menschen, der vier Jahre in einem Betrieb arbeitet, als offensichtlich nicht mehr vermittelbar abstempeln, weil er sich keinen anderen Job sucht, in dem er mehr verdienen könnte. Dass sich Wertigkeiten verschoben haben, merkt man schon an der Sprache. Früher sagte man, dass man einen Beruf ausübt. Das hatte mit Berufung und Berufsehre zu tun. In den 90er-Jahren spricht man davon, dass jemand einen Job macht. Das meint: Alles muss er machen, alles ist zumutbar. Früher hat man sein Geld verdient. Es war eine ethische Kategorie dabei: Ich will mein Geld wirklich verdienen, ich will es auch verdient haben. Heute macht man Geld. Egal, ob man es erarbeitet, geerbt, an der Börse erzockt oder auf der Straße gefunden hat: Man macht Geld. Ein Wert wie Güte wurde diffamiert, in dem die Menschen, die gütig sind, zu Gutmenschen abgestempelt wurden. Der Begriff Güte ist verschwunden. Der Wert der Gerechtigkeit wurde diffamiert als Sozialneid. Immer wenn jemand Gerechtigkeit ruft, wird entgegnet: du bist ja nur neidisch. Es ist ungeheuerlich: Interessen geleitete Gruppierungen haben Werte diskreditiert, die Wertträger diffamiert und die Werte faktisch aus unserem Sprachgebrauch getilgt.

Ist auch die mangelnde Identifikation mit unserem Staat ein Grund für die Entfremdung und die negativen Entwicklungen? Es wird oft von dem Staat gesprochen, aber nicht davon, dass wir der Staat sind.

Schneider: Das hängt damit zusammen, dass der Staat nicht mehr alle Menschen mitnimmt. Gerade in den 50er-, 60er- und vor allem in den 70er-Jahren gab es die Situation, dass jeder das Gefühl hatte, es zu etwas bringen zu können. Das lag auch an der Sozialpolitik der Regierung Willy Brandt. Es gab Bafög, auch Arbeiterkinder konnten plötzlich studieren. Es gab Abendschulen und zweite Bildungswege. All das implizierte: Du bekommst die Chance von uns. Man hatte das Gefühl, mitgenommen zu werden. Man identifizierte sich tatsächlich mit dieser Politik. Man war irgendwie dankbar. Und man fühlte sich dem Gemeinwesen verpflichtet und sagte, ich will auch etwas für dieses Gemeinwesen tun. In dem Moment aber, wo ein Staat sich neoliberal gebärdet und sagt, jeder ist seines Glückes Schmied, wir geben zwar eine gemeinsame Ziellinie vor, aber dann müsst ihr selber sehen, wie ihr klarkommt, in diesem Moment muss sich ein Staat nicht wundern, wenn die Identifikation mit dem Staatswesen bei den Verlierern eines solchen Systems verloren geht. Das mündet in mangelndem Engagement im sozialen Bereich, in mangelndem Engagement im politischen Bereich und in sinkende Wählerquoten. Und letztlich sogar in der Gefahr, dass braune Rattenfänger viele Leute einsammeln.

Wären Volksabstimmungen ein Instrument, um mehr Identifikation mit dem Staat zu schaffen?

Schneider: Wenn Sie zum Beispiel in Berlin leben und seit fünf Jahren arbeitslos sind, sich schon tausend Mal beworben, aber nur kleine, unterbezahlte Jobs bekommen haben, dann interessiert sie überhaupt nicht eine Volksabstimmung darüber, ob ein alter Flughafen begrünt werden soll oder nicht.

Und wie sieht es mit größeren, essentiellen Themen aus?

Schneider: In Berlin reichte die Ankündigung einer Volksabstimmung über sozialen Wohnraum schon zu einem Kurswechsel in der Wohnungsbaupolitik. Um die Identifikation mit dem Staat zu erhöhen, müssen es schon Volksabstimmungen über Themen sein, die dem Bürger das Gefühl verschaffen, dass sich an der persönlichen Lebenssituation etwas ändern kann.

Wie optimistisch sind Sie, dass wir die Integration schaffen?

Schneider: Aus meiner Sicht sind einige Dinge zwangsläufig. So werden wir spätestens im Winter über die Schuldenbremse reden, weil jetzt schon unklar ist, wie die Kommunen die Lasten tragen sollen. Ich bin überzeugt, dass es im kommenden Jahr eine Diskussion über eine neue Steuer- und Finanzpolitik geben wird, die auch wieder auf die Einnahmeseite des Staates achtet. Es wird neu diskutiert werden, dass Kommunen und Länder in die Lage versetzt werden müssen, ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Wenn es diesen politischen Umschwung gibt, bin ich überzeugt davon, dass wir es schaffen.

Das Interview führte Werner Kolbe

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)

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