Bürgergeld: Wie die Union mit Fake News Sozialneid schürt
Archivmeldung vom 08.11.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićNicht repressiv genug: CDU und CSU wollen das geplante Bürgergeld blockieren. Um Beschäftigte auf ihre Seite zu ziehen, die es selbst betreffen kann, schüren sie Sozialneid nach unten – und verbreiten falsche Informationen. Dies berichtet Susan Bonath im Magazin "RT DE".
Weiter berichtet Bonath auf RT DE: "Die Unionsparteien CDU und CSU wollen das ab Januar geplante Bürgergeld, eine Art Light-Version von Hartz IV, im Bundesrat boykottieren. Ihre Begründung: Die für zwei Jahre befristete Gewährung von etwas Schonvermögen sowie die abgemilderte Sanktionspraxis würden dazu führen, dass Bürgergeld-Bezieher mehr in der Tasche haben könnten als Beschäftigte. Doch die Behauptung ist falsch und entspricht einer altbekannten Taktik der Mächtigen: Teile und herrsche. Sie schüren Sozialneid nach unten, um von sich selbst abzulenken und die Lohnabhängigen dazu zu bringen, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln.
Vorübergehend mehr Schonvermögen
Was kritisieren CDU und CSU? Wer ins neue Hartz IV, das Bürgergeld, rutscht, sollte nach dem Willen der Regierung befristet für zwei Jahre ein sogenanntes Schonvermögen behalten dürfen. Das ist nicht außerordentlich hoch, sondern wird mit 60.000 Euro für den Antragsteller und 30.000 Euro für Haushaltsangehörige beziffert. Dazu gehören auch Lebensversicherungen und Sachwerte wie etwa ein Auto.
Bisher mussten Betroffene diese Werte vor einer Antragsbewilligung fast vollständig verbrauchen, quasi aufessen. Als Schonvermögen galten gerade einmal 150 Euro pro Lebensjahr der Antragsteller und Angehörigen. Ein 50-jähriger Alleinstehender durfte 7.500 Euro Erspartes behalten. Das Bürgergeld soll Betroffenen dafür eine zweijährige Karenzzeit ermöglichen. Das heißt: Erst nach zwei Jahren sollen sie damit beginnen, ihr Angespartes zu verbrauchen, wenn sie keine Arbeit finden.
Als Schonvermögen sollten auch zu große und zu teure Wohnungen gelten. Ebenfalls zwei Jahre lang sollen Betroffene in Unterkünften bleiben dürfen, deren monatliche Kosten die kommunal festgelegten, niedrigen Obergrenzen übersteigen. Bisher werden Antragsteller sofort aufgefordert, ihre Kosten innerhalb eines halben Jahres zu senken, was in aller Regel einen Umzug bedeutet. Finden sie keine günstigere Bleibe, müssen sie den übersteigenden Teil der Kosten aus dem Regelsatz tragen.
Weniger harte Sanktionen
Außerdem sollen Antragsteller im ersten halben Jahr des Bürgergeldbezugs nicht sanktioniert werden dürfen, wenn sie etwa Jobangebote oder Maßnahmen ablehnen. Danach will die Regierung die möglichen Sanktionen auf 30 Prozent deckeln und den Mietzuschuss davon verschonen, um Obdachlosigkeit zu vermeiden. Wer etwa als Alleinstehender die von Amts wegen angebotene Leiharbeit ablehnt, dem dürfte das Jobcenter den Regelsatz dann von 502 Euro für drei Monate auf 351 Euro kürzen.
Diese etwas weniger restriktive Sanktionspraxis wird bereits seit Ende 2019 angewandt. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) höhere Kürzungen als grundrechtswidrig eingestuft. Die Regierung musste ihr seit 2005 durchgesetztes Vorgehen entschärfen.
Bis dahin konnten die Behörden unter 25-Jährigen bereits beim ersten Auflagenverstoß den Regelsatz für ein Vierteljahr ganz streichen, beim zweiten zusätzlich den Mietzuschuss. Ältere wurden gestaffelt sanktioniert: 30 Prozent beim ersten, 60 Prozent beim zweiten und 100 Prozent beim dritten "Vergehen". Wie die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags schon 2017 konstatierten, führten diese Strafen vor allem zu Krankheit, psychischen Problemen und Verelendung, aber kaum zur erwünschten "Integration in den Arbeitsmarkt".
Um es mit Zahlen zu untermauern: Zeitweise verhängten Jobcenter pro Jahr über eine Million Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher, weil sie einen Termin verpasst, Angebote ausgeschlagen oder auch nur zu wenige Bewerbungen nachgewiesen hatten. Zwischen 5.000 und 12.000 Menschen waren deshalb jeden Monat auf null sanktioniert. Nicht wenige dürften dadurch ihre Wohnung verloren und mittels Beschaffungskriminalität überlebt haben.
Drohkulisse, um Beschäftigte zu erpressen
Den Unionsparteien und der AfD zufolge, die eine ähnlich restriktive Linie vertritt, solle somit jeder, der nach einem Jahr Arbeitslosigkeit oder sofort ins Bürgergeld rutscht, weiterhin fast sein gesamtes Schonvermögen zuvor aufbrauchen und bei Ablehnung schlecht bezahlter Jobs existenzbedrohend sanktioniert werden.
Das mag zu Recht frustrierten Beschäftigten im maßgeblich durch Hartz IV ausgeweiteten Niedriglohnsektor eine gewisse Genugtuung bescheren. Allerdings erhöht es auch die Angst besonders in dieser Gruppe vor Kündigung und dem damit verbundenen Abstieg. So bremsen restriktive Sozialsysteme die Bereitschaft Beschäftigter, Widerstand gegen miserable Arbeitsbedingungen und Löhne zu leisten, also etwa zu streiken oder auf andere Weise mit ihren Unternehmen zu verhandeln.
Mit anderen Worten: Niedrige Sozialleistungen und scharfe Restriktionen dienen vor allem der Erpressung, schlecht bezahlte Jobs zu jedweden Bedingungen anzunehmen. Dies schwächt die Verhandlungsposition Beschäftigter gegenüber Unternehmen, minimiert ihren Widerstand, führt zu Lohndrückerei, Abbau von Arbeitnehmerrechten und letztlich zur viel beklagten Prekarisierung des Arbeitsmarktes. Es schadet im Endeffekt allen Lohnabhängigen.
Motor für Abbau von Arbeitsrechten
Blickt man in der Geschichte zurück, sind die heutigen Arbeitsrechte gerade das Produkt solcher Abwehrkämpfe der Arbeiterklasse, die nicht selten blutig verliefen. Dass die Politik im Sinne der Herrschenden seit Jahrzehnten dabei ist, diese Rechte zu schleifen, beweisen allerlei "Reformen" in der jüngeren Vergangenheit: Als Anhebung des Rentenalters getarnte Kürzungen der Altersbezüge, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, Erhöhung der Sozialabgaben bei gleichzeitiger Kürzung der Leistungen, massive Ausweitung des Niedriglohnsektors und so weiter.
Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) bezeichnete vor der Einführung von Hartz IV das Ausweiten des Niedriglohnsektors als eines der Hauptziele dieser "Arbeitsmarktreform". Wie jedoch der Namensgeber dieser Leistung, der wegen Veruntreuung von Firmengeldern vorbestrafte Ex-Volkswagen-Manager Peter Hartz, in einem Spiegel-Interview 2018 einräumte, hatte die Hartz-Kommission bereits für 2005 ein Salär von 511 Euro für Alleinstehende als Existenzminimum berechnet. Das waren immerhin neun Euro mehr, als trotz Inflation ab 2023 für das Bürgergeld veranschlagt werden.
Vor allem auf Druck der CDU, CSU und FDP dampfte damals der Gesetzgeber die Hartz-IV-Leistungen auf etwa zwei Drittel des vorgeschlagenen Satzes ein. Betroffene in Westdeutschland erhielten anfangs 345 Euro, im Osten nur 332 Euro, für Haushaltsangehörige gab es, je nach Alter, zwischen 60 und 80 Prozent davon. Die künstlich kleingerechneten Sätze gab es von Anfang an nur gegen Wohlverhalten: Wer nicht jedwedes Jobangebot annahm, riskierte eine Sanktion bis hin zur Existenzvernichtung, inklusive des Verlustes der Wohnung und der Krankenversicherung.
Es verwundert nicht, dass die Angst, ins Hartz-IV-System zu rutschen, der Motor war für den Boom prekärer Jobs bis hin zur Sittenwidrigkeit. Drückerkolonnen und oft unseriös agierende Callcenter, die wahllos Haushalte mit Werbeanrufen bombardierten, erlebten damals einen regelrechten Boom. Wer bereits seines im früheren Erwerbsleben Ersparten beraubt wurde und nur die Option der kompletten Existenzvernichtung hatte, war gezwungen, solche massenhaft von den Behörden aufgedrängten Jobs anzunehmen.
Union hat Unrecht: Wer arbeitet, hat immer mehr
Unter Fake News kann die Behauptung der Unionsparteien verbucht werden, wonach angeblich mehr habe, wer mit Bürgergeld zu Hause bleibe, als jemand, der für wenig Geld arbeite. Zunächst verschweigen CDU und CSU den eigentlichen Skandal, nämlich die Entwertung der Ware Arbeitskraft, also schlechte Entlohnung und miese Arbeitsbedingungen. Zudem sorgen andere Sozialleistungen oder aber die Einkommensfreibeträge, die weitgehend vom Hartz-IV-System übernommen werden sollen, genau dafür, dass Beschäftigte immer mehr haben als Erwerbslose.
Das heißt: Wer in einem schlecht bezahlten Job arbeitet, kann Wohngeld beantragen, was sein Einkommen erhöht. Beim Bürgergeld gibt es, wie bei Hartz IV, keinen Anspruch darauf. Familien erhalten zusätzlich Kindergeld und gegebenenfalls Kinderzuschläge. Kindergeld soll auch beim Bürgergeld als Einkommen angerechnet, also von der Leistung abgezogen werden.
Wer besonders wenig verdient und mit Wohn- und Kindergeld noch immer schlechter dastehen würde, kann aufstockendes Bürgergeld beantragen. Auch damit hätten Betroffene immer mehr als Erwerbslose. Dafür sorgen, wie bei Hartz IV, Freibeträge auf Erwerbseinkommen: Die ersten verdienten 100 Euro, 20 Prozent vom Einkommen zwischen 101 und 1.000 Euro sowie zehn Prozent vom darüber hinaus verdienten Lohn sollen nicht auf das Bürgergeld angerechnet werden.
Wer zum Beispiel einen Minijob verrichtet und dafür monatlich 500 Euro bekommt, erhält einen Freibetrag von 180 Euro. Auf das Bürgergeld angerechnet werden also nur 320 Euro vom Einkommen. Diese Personen haben also grundsätzlich 180 Euro mehr im Monat als Erwerbslose. Mit einem Erwerbseinkommen von 1.000 Euro netto gibt es einen Freibetrag von 280 Euro, angerechnet werden also nur 720 Euro. Der Betroffene hätte mehr als ein Minijobber und erst recht mehr als ein Erwerbsloser.
Ampel rudert zurück
Auf Druck der Union ruderte die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP inzwischen zurück. Sie bot entsprechende "Nachbesserungen" im Gesetzentwurf an, die an einer empfindlichen Stelle ansetzen: den aktuell massiv steigenden Heizkosten. Diese nämlich sollen nun doch auch in den ersten beiden Jahren des Bezugs streng gedeckelt werden.
In der Konsequenz könnte das bedeuten: Wenn Vermieter, wie derzeit allerorts zu beobachten, die Heizkosten-Vorauszahlungen wegen der steigenden Preise verdreifachen oder gar verfünffachen, müssen Betroffene damit rechnen, teils sogar hunderte Euro aus Mitteln aufzubringen, über die sie nicht verfügen. Denn selbst ein Abdrehen der Heizung und winterliches Frieren würde erst bei der nächsten Abrechnung zu Buche schlagen. Und dann droht schon das nächste Desaster: Etwaige Rückzahlungen vom Vermieter werden nämlich auf die Leistungen angerechnet, also wiederum abgezogen.
Außerdem will die Regierung die Antragsteller nun doch restriktiver durchleuchten, was angespartes "Vermögen" betrifft. Wie bisher, sollen die Jobcenter über die persönliche Erklärung hinaus praktisch für jeden Cent Nachweise einfordern. Geht das durch, bleibt am Ende nur wenig mehr als die Umbenennung von Hartz IV.
Kontraproduktiver Sozialneid
Die Argumentation der Unionsparteien im Verbund mit der Wirtschaftslobby zielt – im Einklang mit einschlägig bekannten Propaganda-Techniken – primär auf pure Emotionen ab: Die Agitatoren schüren Sozialneid nach unten. Damit einher geht die neoliberale Erzählung, wer fleißig sei, werde dafür belohnt.
Blickt man auf die Reichen, entpuppt sich das schnell als neoliberales Märchen. Ein milliardenschwerer Großaktionär muss sich nicht anstrengen, um seine Dividenden einzufahren, die sprudeln auch so auf sein Konto. Ähnlich verhält es sich mit den Diäten der Abgeordneten. Wer vier Jahre im Bundestag oder fünf in den Landesparlamenten seine Beine hochlegt und nichts tut, erhält das Geld – ein Vielfaches der Hartz-IV-Leistungen, trotzdem.
Die von persönlicher Leistung unabhängigen Einkommen entstammen, wie die Sozialleistungen, aber auch die nicht der Bevölkerung dienenden Staatsausgaben für Rüstung oder Bankenrettung etwa, aus dem ausschließlich durch Arbeit erschaffenen Mehrwert – abgeknöpft von den Beschäftigten, entweder durch Gewinnabschöpfung durch den Arbeitgeber oder durch staatlich erhobene Steuern. Der Großteil dieses abgepressten Mehrwerts fließt immer noch nach oben, nicht nach unten.
Der geschürte Sozialneid lenkt von der Umverteilung von unten nach oben ab und fokussiert einseitig auf die Sozialausgaben. So werden Beschäftigte selbst im Niedriglohnsektor dazu gebracht, gegen ihre eigenen Interessen nach unten zu treten und dadurch ihre Lage weiter zu verschlechtern.
"Fachkräftemangel" durch soziale Verelendung
Nun produziert das kapitalistische System selbst Arbeitslosigkeit. Fast niemand außerhalb des Beamtendienstes ist davor gefeit. Mit der technologischen Entwicklung dürfte das Problem zunehmen. Um das zu umgehen, müsste der Staat die Arbeitszeiten verkürzen, um den Bedarf an Beschäftigten zu erhöhen.
Dem könnte man mit dem viel beklagten Fachkräftemangel kontern. Allerdings hätte Deutschland durchaus genügend Einwohner, um diesen Mangel zu beseitigen. Doch das gelingt auch deshalb nicht, weil viele Erwerbslose und Jugendliche aus armen Familien die Anforderungen für unbesetzte Stelle gar nicht erfüllen. Dies den Betroffenen allein in die Schuhe zu schieben, ist neoliberales Prinzip, aber falsch.
Nötig wären massive Verbesserungen in der schulischen und beruflichen Ausbildung. Kinder aus sozial abgehängten Familien müssten gezielt gefördert und entsprechend ihrer Talente gestärkt, motiviert und befähigt werden. Es braucht Programme, um Jugendliche aus den Armutsspiralen ihrer Herkunft zu befreien.
Man kann nicht einen Fachkräftemangel beklagen und zugleich für zunehmende soziale Verelendung sorgen, die das Heer von Menschen vergrößert, die die Lücken im Arbeitsmarkt nicht füllen können. Abgesehen davon, dass Verarmung und repressiver Umgang mit den Betroffenen nur zu mehr Kriminalität und sozialer Spaltung führt, nicht aber zu einer lebenswerten, integrativen Gesellschaft für alle."
Quelle: RT DE