Professor Holger Wormer: "Die Stimmung wird zwangsläufig irgendwann kippen"
Archivmeldung vom 06.04.2020
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 06.04.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch André OttDie Corona-Berichterstattung in Deutschland hat sich verändert. Hingen die Leidmedien in der ersten Phase an den Lippen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Virologen wie Professor Christian Drosten von der Charité, so dringen inzwischen auch Stimmen durch, die vor den Folgen der politisch verordneten Einschränkungen warnen - für die Wirtschaft wie für die Bürger.
"Eine Frage muss man auf jeden Fall stellen: Ist die ganze Debatte zu stark fokussiert auf Medizin, Virologie und Epidemiologie?", sagt Professor Holger Wormer, Leiter des Lehrstuhls für Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund, im Titelinterview mit dem prmagazin (April-Ausgabe).
Die deutschen Medien machen aus Wormers Sicht "im Großen und Ganzen" einen guten Job. Allerdings werde in vielen Fällen zu wenig eingeordnet. "Die Berichterstattung war fast ein bisschen zu brav. Man könnte durchaus hinterfragen, welche Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus wirklich medizinisch begründet sind und welche nicht", so der ehemalige Wissenschaftsjournalist.
Wormer begrüßt es daher, dass in den Leitmedien inzwischen auch kritische Stimmen Gehör finden - wie die von Finanzmanager Alexander Dibelius, der Mitte März im Handelsblatt als einer der Ersten hinterfragte, ob es richtig sei, für den Schutz von zehn Prozent Risikopatienten die anderen 90 Prozent "einzusperren". "Ich finde es gut, dass es diese Stimmen gibt", sagt Wormer. "Der Journalismus muss mit dafür sorgen, dass solche Fragen gestellt werden, obwohl sie unpopulär sind."
Wird die Stimmung in der Bevölkerung nicht zwangsläufig irgendwann kippen? Wormer: "Wahrscheinlich. Wir erwarten von den Leuten, dass sie vielleicht über Monate wie bei einer Dressur genau das machen, was sich ein Mediziner wünscht oder ein Politiker anordnet. Aber es wird unweigerlich der Punkt kommen, an dem man diese Disziplin nicht mehr in der Breite erwarten kann. Irgendwann sagen die Leute: Es ist mir egal, ich gehe raus, ich will nicht mehr." Ein Politiker könne vorübergehend als Rettungsheld auftreten, wenn er ständig noch drakonischere Maßnahmen verkünde, immer mehr in die Grundrechte eingreife - "aber das geht irgendwann nach hinten los", glaubt Wormer.
Quelle: prmagazin (ots)