«Patienten nicht in Geiselhaft nehmen»
Archivmeldung vom 10.03.2009
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Freigeschaltet durch Oliver Randak«Krank im gesunden System» heißt das neue Buch von Karl Lauterbach. Die Präsentation des Werks nutzte der SPD-Gesundheitsexperte zu einer schonungslosen Abrechnung mit Ärzten, Krankenkassen und Pharmafirmen – und zu Seitenhieben auf die Union.
Den Honorarstreit mit den Ärzten findet er «extrem langweilig». Dieses Attribut trifft auf die Präsentation von Karl Lauterbachs neuem Buch nicht zu. Es gibt ein paar Witze, einen renitenten Zwischenfrager und so viele klare Worte, wie man sie einen Steinwurf entfernt von Reichstag und Kanzleramt von einem Politiker wohl selten hört.
«Das deutsche Gesundheitssystem belastet diejenigen am stärksten, die am meisten für die Solidargemeinschaft beitragen», lautet einer seiner Vorwürfe. «Preise für ärztliche Leistungen können nicht wie auf einem Basar verhandelt werden», stellt er klar. Und er hat auch einen Seitenhieb in Richtung CDU/CSU parat: «Die Union ist in der Gesundheitspolitik gespalten. Das erste Drittel denkt wie ich, sagt aber nichts. Das zweite Drittel denkt auch wie ich, sagt aber das Gegenteil. Und das dritte Drittel hat tatsächlich andere Ansichten.»
Der Mann, der auch heute eine Fliege trägt, ist nicht nur einer der berühmtesten Krawattenverweigerer in der deutschen Politik. Er ist auch einer der profiliertesten Kenner des deutschen Gesundheitssystems. Weil er darin viele Schwächen sieht und immer wieder um Hilfe gebeten wird, möchte er einen Wegweiser liefern, wie der Untertitel seines Buches lautet. «Jedes Mal, wenn ich bisher einen Tipp für eine Behandlung, eine Klinik oder einen Arzt gegeben habe, kann ich jetzt das Buch verkaufen», scherzt der SPD-Mann, dessen letztes Werk Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren ein Bestseller wurde.
Lauterbach fasst sein Buch zusammen, das zugleich Diagnose und Therapie sein will, die Missstände benennt und Lösungsvorschläge liefert. Viele Passagen lesen sich erschütternd: Ein Geflecht von Inkompetenz, Korruption und Ignoranz sorgt für ein Gesundheitssystem, das diesen Namen nicht verdient hat. Wer Gesund im kranken System gelesen hat, erkennt: Das System dient nicht dem Patienten, sondern nur sich selbst. Alle Beteiligten profitieren dann am meisten, wenn möglichst viele Menschen möglichst schwer krank sind.
Lauterbach strahlt dennoch eine erstaunliche Zuversicht aus. «Innerhalb von einer Legislaturperiode ließen sich die wichtigsten Probleme im deutschen Gesundheitssystem lösen», behauptet er. Ein Mann, der die Gesundheitsreform mit ausgehandelt hat, der in der Rürup-Kommission saß und bei seinem Einsatz für wirkungsvollere Medikamente und gesündere Ernährung seit Jahren gegen Pharmaunternehmen und Bauernverbände kämpft, müsste es eigentlich besser wissen.
Doch Lauterbach ist erst seit 10 Jahren Politiker, aber schon seit 20 Jahren Wissenschaftler. Vielleicht glaubt er deshalb an den Sieg der Vernunft – obwohl seit Jahrzehnten jede mühsam erkämpfte Neuerung im Gesundheitswesen von den mächtigen Lobby-Interessen wieder zermahlen zu werden droht. Die aktuelle Reform der Honorare ist nur ein Beispiel. Die Kritik der Ärzte sei berechtigt. «Aber die Ärzte dürfen nicht die Patienten in Geiselhaft nehmen und den Konflikt auf ihrem Rücken austragen. Das ist unethisch und dumm», sagt Lauterbach. Am liebsten möchte er das Gezeter ums Honorar ganz beenden. «Das hat absurde, fast kafkaeske Züge. Wir sollten das hinter uns lassen und wieder inhaltliche Gesundheitspolitik machen», lautet sein Wunsch.
Der aktuellen Reform fehle «die gesundheitliche Richtung, die medizinische Vision. Die einzige Vision, die in der Reform steckt, ist der Erhalt des bestehenden Systems mit den Kassenärztlichen Vereinigungen», sagt er. Doch dieses System sei «am Ende». Das habe mittlerweile sogar Bayerns Gesundheitsminister Markus Söder (CSU) erkannt. «Doch Herr Söder vergisst dabei leider, dass er dieses System selbst mit beschlossen hat», stichelt er. Es ist eben auch Wahlkampf. Und für den ist Lauterbach erstaunlich zuversichtlich.
Am liebsten würde er sein Programm mit FDP und Grünen verwirklichen. «Meine Ziele ließen sich in einer Ampelkoalition am besten umsetzen», sagt er. Wenn er die Frage beantwortet, «wie ich das System reformieren würde oder werde», dann betont er den Indikativ. So viel Optimismus erscheint nicht nur ob der aktuellen Umfragewerte erstaunlich, sondern auch ob der unterschiedlichen Programmatik von SPD, Grünen und FDP in der Gesundheitspolitik. Aber positives Denken soll ja gesund sein.