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Petra Pau (Die Linke) zieht Lehren aus der Aufarbeitung des Rechtsterrors des NSU und bezweifelt Nutzen des Combat 18-Verbots

Archivmeldung vom 27.01.2020

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.01.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch André Ott
Petra Pau (2018)
Petra Pau (2018)

Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die Originaldatei ist hier zu finden.

War der NSU die mörderische Ausnahme oder die Spitze des Eisbergs? Petra Pau: Leider muss ich sagen, dass das Thema Rechtsterrorismus weder mit der Selbstenttarnung der NSU vom Himmel gefallen noch durch sie beendet ist. Rechtsterror begleitet die Bundesrepublik schon seit langem.

Ich erinnere nur an das Oktoberfest-Attentat, das sich dieses Jahr zum 40. Mal jährt und das noch nicht vollständig aufgeklärt ist. Erschreckend ist, dass mir mutmaßliche Täter und mutmaßliche Helfer beim Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke schon aus den Ermittlungsakten zur NSU-Mordserie bekannt sind. Ebenso ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Hessen.

Hatte das Versagen des Verfassungsschutzes bei den NSU-Rechtsterroristen System? Wir waren uns schon beim ersten NSU-Untersuchungsausschuss von der CDU/CSU bis zur Linken einig, dass es in allen Sicherheitsbehörden zumindest strukturelle Probleme gab, die verhinderten, dass Polizeien, Geheimdienste und Justiz erkennen konnten oder wollten, dass man es mit einer rassistisch motivierten Mord- und Anschlagsserie zu tun hat. Wir Linken, Grüne und Teile der SPD nennen das strukturellen Rassismus. Damit unterstelle ich nicht, dass der einzelne Polizist oder Staatsanwalt ein Rassist ist. Aber bestimmte Traditionen in der Behördenkultur verhinderten, dass gesehen wurde, was wirklich ist. Und so wurden die Hinterbliebenen und Überlebenden der Terrortaten bis zum Schluss kriminalisiert. So hatte der zuständige Staatsanwalt nach dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter vor der Presse gesagt, man ermittele im "Zigeunermilieu".

Bundesweit wurden Sinti und Roma zum Mord in Heilbronn befragt, nur weil Schausteller in der Nähe des Tatortes ihre Fahrgeschäfte aufgebaut hatten. So wurde eine Minderheit erneut stigmatisiert und abrufbare Vorurteile bekräftigt. Heute haben wir das Problem, dass Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden selbst solchen Ansichten anhängen. Ku-Klux-Clan-Anhänger in der Einheit von Michèle Kiesewetter wurden bis heute nicht dienstrechtlich belangt. Netzwerke in der Bundeswehr und bei der Polizei flogen auf wie "Hannibal", "Nordkreuz" und "NSU 2.0", wo man sich auf den "Tag X" - die Beseitigung der Demokratie - vorbereitet.

Sind die rechtsextremen "Prepper"-Gruppe "Nordkreuz" und das "Hannibal"-Netzwerk Ausdruck des Rechtsrucks der gesamten Gesellschaft oder muss man von Infiltrierungsversuchen ausgehen? Wir wissen es nicht. Im ersten NSU-Untersuchungsausschuss haben wir bereits fraktionsübergreifend Einstellungsuntersuchungen gefordert, um herauszufinden, ob man es mit dem Querschnitt der Gesellschaft zu tun hat oder - wegen der hierarchischen Strukturen in Armee und Polizei - mit einer Ballung problematischer Charaktere. Derzeit wissen wir nur, dass wir ein Problem haben, nicht aber, welches Ausmaß dieses hat. Auch dies ist aber kein neues Phänomen. Erinnert sei an den damaligen KSK-General Reinhard Günzel, der dem damaligen CDU- und heutigen AfD-Mitglied Martin Hohmann 2003 nach einer antisemitisch gefärbten Rede Beifall zollte.

Wie reagierten die deutschen Behördenvertreter im Untersuchungsausschuss auf den Vorhalt, dass FBI-Profiler schon sehr früh von Tätern mit Fremdenhass ausgingen, während hier gegen die türkische Mafia ermittelt wurde? Die Reaktion war bezeichnend. Ich erinnere mich gut an eine handschriftliche Notiz eines BKA-Mitarbeiters an dem Profiling der FBI-Kollegen, die nur hospitiert hatten: "Was soll diese Kaffeesatzleserei?" Dann wurde ein zweites Gutachten beim LKA Baden-Württemberg in Auftrag gegeben, das haarsträubend war. Dort hieß es: Die Taten seien von einer solchen Brutalität, dass sie nicht von Menschen aus dem europäischen Kulturkreis begangen worden sein könnten. Das ist Wirklichkeitsverweigerung oder sogar institutioneller Rassismus.

Ein Name taucht immer wieder auf: Andreas Temme. Der hessische Verfassungsschützer war beim Mord an einem Internet-Café-Betreiber in Kassel vor Ort. Nun war er laut hessischem Innenministerium auch mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan Ernst "dienstlich befasst" gewesen. Ist dort ein rechtsextremes Netzwerk erkennbar? Es sind Vorgänge wie diese, die mich zu der Ansicht bringen, dass Verfassungsschutzämter nicht Teil der Lösung sind, sondern Teil des Problems. Wann immer Mitarbeiter des Verfassungsschutzes oder V-Leute ins Spiel kamen, wurden die Ermittlungen mit angezogener Handbremse geführt. Denn im Zweifelsfall steht der Quellenschutz immer vor der Aufklärung oder der Verhinderung von Straftaten.

Das Bundeskriminalamt hatte sich schon in den 80er-Jahren über diese Praxis beschwert. Andreas Temme hat in seinen Aussagen vor beiden NSU-Untersuchungsausschüssen gelogen, als er behauptete, niemals einen Auftrag bekommen zu haben, sich nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel bei seinen V-Leuten umzuhören. Die Kollegen im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss fanden eine ausgedruckte E-Mail mit der entsprechenden Weisung, die Temme sogar abgezeichnet hatte. Doch leider steht er bis heute unter Schutz. Der heutige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier hat etwa verhindert, dass Kriminalbeamte Temme direkt verhören konnten.

Seine Akten sind noch für Jahre gesperrt. Nach wie vor glaube ich nicht an Verschwörungstheorien, aber wir haben offenbar ein massives Problem von Demokratiefeinden in Behörden. So ist der "Lothar Lingen" genannte Verfassungsschutzmitarbeiter, der wenige Tage nach der Selbstenttarnung des NSU das Schreddern der Akten von sieben Thüringer V-Leuten angeordnet hatte, nicht bestraft worden. Froh bin ich darüber, dass nun Thomas Haldenwang und als sein Stellvertreter Sinan Selen an der Spitze des Verfassungsschutzes stehen, die den Fokus konsequent auf den Rechtsterrorismus legen und schwarze Schafe innerhalb der Behörde aussortieren.

Üppige Zahlungen an V-Leute flossen auch in den Aufbau des "Thüringer Heimatschutzes", von dem sich später der NSU abspaltete. Haben Sie die Hoffnung, dass die Phase des Staates im Staate endet? Das bleibt noch zu beweisen. Wichtig ist aber, nicht zu vergessen, dass V-Leute gekaufte Täter sind, die nur dann in der Hierarchie aufsteigen können, wenn sie Straftaten anstiften oder mitbegehen. Ich erinnere nur an Ralf Marschner, der zehn Jahre V-Mann des Verfassungsschutzes war und nach Zeugenaussagen sowohl Beate Zschäpe als auch Uwe Mundlos in seiner Abrissfirma beschäftigt haben soll, als diese im Nürnberger Raum mordeten. Künftig sollen zwar Straftäter in der Regel nicht mehr als V-Leute beschäftigt werden, Ausnahmen sind aber immer noch möglich. Hier sollte man sich eher an Thüringen orientieren, das alle V-Leute abgeschaltet hat.

Sind Rechtsterroristen "einsame Wölfe" oder sogar international über das Internet vernetzt? Schon im NSU-Kontext wurde deutlich, dass die Behörden nicht auf der Höhe der Zeit waren, nicht wussten, wie sich die Täter organisierten oder Botschaften mit ihrer Szene austauschten. So wurde immer auf das Fehlen von Bekennerbriefen verwiesen, nicht ahnend, dass die Morde selbst die Botschaften waren. Aber Versäumnisse gab es nicht nur bei der Polizei. Angehörige der Opfer der Mordserie haben bereits 2006 unter dem Slogan demonstriert: "Kein zehntes Opfer".

Während sie also schon lange von einer rassistisch motivierten Mordserie ausgingen, ließ man sich in der deuschen Mehrheitsgesellschaft noch lange nicht alarmieren. Auch meine Fraktion hat nur eine einzige parlamentarische Anfrage zu dieser Mordserie gestellt. Und nicht zuletzt müssen sich auch Medien infrage stellen. Der unsägliche Begriff "Döner-Morde" geht auf ihr Konto. Heute ist das Internet noch in einem sehr viel größeren Ausmaß Rekrutierungs-, Radikalisierungs- und Propandawerkzeug von Rechtsterroristen. Das zeigen die Morde von Utoya, München, Christchurch und Halle. Man plant in der Öffentlichkeit, man streamt die Tat live, man inszeniert einen "Märtyrertod".

Wächst die Gefahr von Bluttaten, weil Träume der Szene von einer Machtübernahme der AfD einen Dämpfer erhalten haben? Fest steht: Die AfD-Abgeordneten sind demokratisch gewählt, das macht sie aber nicht zu Demokraten. Sie dulden in ihren Reihen Antisemiten und Gewaltverherrlicher. Und sie legen mit jeder Rede, die sie im Parlament halten, rhetorisch die Brandsätze, von denen sie hoffen, dass sie außerhalb des Parlamentes von anderen aufgenommen werden. Alarmierend dabei ist, dass in der Gesellschaft die gruppenbezogene Feindseligkeit ebenso wächst wie die Akzeptanz von Gewalt. Und letzeres vor allem bei den über 60-Jährigen. Diese akzeptieren nicht nur die Gewalt, die von Pegida-Demos oder Anschlägen der "Gruppe Freital" ausgeht. Ihre Akzeptanz schließt die Wahlentscheidung für eine Partei mit ein, die den Boden bereitet. Das heißt, die Gefahr wird nicht geringer.

Hat das Verbot der Gruppe "Combat 18" einen über die Signalwirkung hinausgehenden Nutzen? Das Verbot war lange angekündigt. Man kann also davon ausgehen, dass diese Nazis belastendes Beweismaterial vernichtet und sich neu organisiert haben.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots) von Joachim Zießler


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