Interview der OSTSEE-ZEITUNG mit Renate Künast (Grüne) "Neue Kohlemeiler sind grandiose Fehlinvestition"
Archivmeldung vom 05.04.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 05.04.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Länderrat von Bündnis 90/Die Grünen berät heute, am Samstag, in Berlin unter dem Motto "Der Inhalt macht den Unterschied" die Marschroute im Bundestagswahlkampf 2009. Die Rostocker OSTSEE-ZEITUNG sprach mit Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Partei im Bundestag.
OZ: Welche Inhalte sollen den Unterschied machen?
Künast: Oben auf der Agenda stehen die Umwelt- und Energiepolitik
sowie die Themen Bildung, soziale Gerechtigkeit und Bürgerrechte.
Schwerpunkt ist die ökologische Erneuerung. Anders als andere reden
wir nicht nur darüber, wir meinen es tatsächlich ernst damit. Frau
Merkel zum Beispiel deklariert Ziele für die Kohlendioxid-Reduzierung
bis 2050 und macht sich aber zugleich in Brüssel stark für die
deutsche Autoindustrie, die sich gegen EU-Vorgaben wehrt, ab 2012 den
Schadstoffausstoß von Pkw drastisch zu senken. Die Biospritpolitik
von Herrn Gabriel ist gerade implodiert. Ökologische Politik der
Grünen will die Strukturen in der Energiebranche aufbrechen, hin zu
dezentralen Versorgungsformen. Wir halten auch weiter ein Tempolimit
auf deutschen Autobahnen für unabdingbar, auch wenn das für einige
unpopulär ist.
OZ: Auf dem Wahlkampfzettel der Grünen steht ein Kohle-Moratorium.
Keine Kohlekraftwerke, Atom-Ausstieg, wie erklären Sie dem Wähler, wo
der Strom in Zukunft herkommen soll?
Künast: Es wird viel über eine angebliche Versorgungslücke geredet.
Diese gibt es nicht. Als das Erneuerbare-Energien-Gesetz von Rot-Grün
beschlossen wurde, war es das Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien
bis 2010 in Deutschland auf 12,5 Prozent zu erhöhen. Das war 2006
bereits erreicht, heute sind wir bei 14 Prozent. Bis 2020 könnten
es gut 40 Prozent werden. Auch lässt sich mit Erneuerung, Effizienz
und Einsparung die Energiebilanz deutlich verbessern. Experten sagen,
dass in der Sanierung der vorhandenen Gebäude im Land ein
Sparpotenzial von 30 Prozent steckt.
OZ: In Mecklenburg-Vorpommern macht eine Volksinitiative gegen das
geplante Steinkohlekraftwerk in Lubmin mobil. Wie bewerten Sie diese
Kampagne?
Künast: Es ist die helle Freude. Vor zwei Jahren ist mir in einem
Gespräch mit dem vorpommerschen Bischof Abromeit ein Licht
aufgegangen, wie breit doch das Bündnis ist. Es ist ein
hervorragendes Beispiel für bürgerliches Engagement. Neue
Kohlekraftwerke sind grandiose Fehlinvestitionen. In den nächsten 30
bis 40 Jahren blockieren sie Investitionen in umweltverträgliche
Stromerzeugung und sie zementieren die Monopolstellung der vier
Energie-Riesen. Sinnvoll wäre es, vorhandene Kohlekraftwerke zu
modernisieren und so Zeit zu gewinnen. Wer weiß schon heute, auf
welchem technologischen Stand in zehn bis 15 Jahren Energie
erzeugt wird.
OZ: Sie und Jürgen Trittin sollen als Spitzenkandidaten in den
Bundeswahlkampf ziehen. Zwei Ex-Bundesminister unter Rot- Grün und
der Handschlag mit der CDU in Hamburg, wie passt das zusammen?
Künast: Wir haben derweil in Deutschland real ein
Fünf-Parteien-System. Da hat sich das Denken in alten Lagerkategorien
auch bei den Wählerinnen und Wählern offenbar überholt. Alle Türen
sind offen. Wir werden durch alle schauen und sehen, wo sich grüne
Politik am besten umsetzen lässt.
OZ: Wie groß dürfen die Kröten sein, die die Grünen bereit sind zu
schlucken?
Künast: In diesem Bild hat das etwas mit in den Hals stopfen zu tun.
Wir sind aber keine Stopfgänse. Die Grünen werden darauf achten, dass
ihre politischen Marken nicht verschluckt werden. Wo Dinge zu
vereinbaren sind, die in Richtung Reformen laufen, werden wir
kompromissfähig sein.
OZ: Welche Marken setzen die Grünen bei Bildung, sozialer
Gerechtigkeit und Bürgerrechten?
Künast: Alle Kinder sollen gleiche Bildungschancen haben. Darin liegt
im Kern die Gerechtigkeitsfrage. Um das in der Praxis umzusetzen,
wollen wir einen Teil des Solidaritätsbeitrages zum Bildungs-Soli
machen. Das wären in den nächsten Jahren rund 23 Milliarden Euro.
Es ist merkwürdig, bis 2019 werden die Ost-Transfers reduziert, den
Soli-Beitrag sackt das Finanzministerium weiter ein.
OZ: Wo bleibt das
Geld?
Künast: Wir sind für den Mindestlohn, und kämpfen für das Recht auf
Privatheit gegenüber den Schäubles dieser Welt und der datenhungrigen
Wirtschaft.
OZ: Die Grünen kriegen im Osten keinen Fuß auf die Erde. Was raten
Sie den Freunden in Mecklenburg-Vorpommern?
Künast: Im Osten gab es drastische Umbrüche. Da ist es schwierig gegen eine Konkurrenz wie die Linken, die populistisch Biotope der Unzufriedenen hegt. In Mecklenburg-Vorpommern ist derzeit mit der Volksinitiative grüne Politik praktisch erlebbar. Wir zeigen, dass wir was bewegen.
Quelle: Ostsee-Zeitung