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Parteienforscher Neugebauer: Bürgerschaftswahl in Hamburg zeigt vor allem, dass es keine Gewissheiten gibt

Archivmeldung vom 25.02.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 25.02.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Thomas Siepmann / pixelio.de
Bild: Thomas Siepmann / pixelio.de

Die Gewinner von Landtagswahlen sehen darin immer ein Signal für andere Länder und den Bund, die Verlierer dagegen sprechen stets von ausschließlich landespolitischen Themen, die wahlentscheidend waren. Der Berliner Parteienforscher Dr. Gero Neugebauer bewertet die Bürgerschaftswahl in Hamburg und richtet den Blick auf die kommenden fünf Landtagswahlen.

48,3 Prozent für die SPD in Hamburg -- war der Abgesang auf die Volksparteien verfrüht?

Dr. Gero Neugebauer: Ja, das Ergebnis ist erstaunlich. Fünf Parteien im Parlament, eine davon mit absoluter Mehrheit --- damit haben wir nicht mehr gerechnet. Wir haben eher den Zwang zu Drei-Parteien-Koalitionen gesehen.

Welche Schlüsse lässt die Bürgerschaftswahl auf die kommenden Landtagswahlen zu?

Neugebauer: Von Hamburg geht vor allem ein Signal aus: Es gibt keine Gewissheiten. Das bedeutet sowohl, dass Parteien, die stark sind, nicht sicher sein können, auch nach der Wahl noch so stark zu sein, und dass solche, die schwach sind, auch nach dem Urnengang schwach bleiben, wie beispielsweise die Linke. Und eine Partei, die gewinnen will, muss vor allem die Bedürfnisse der Bürger im Blick haben und weniger reflektieren, was die Leistungen der Partei gewesen sind. Wähler kennen keine Dankbarkeit, Wähler wollen Zukunft.

Stärkt die Schlappe für Ahlhaus' strikt konservative "CDU pur"-Politik den Kurs von Parteichefin Angela Merkel?

Neugebauer: Die Schlappe verstärkt das Dilemma, in dem Angela Merkel steckt, wenn sie nur auf den konservativen Flügel setzt. Die CDU ist als Volkspartei verpflichtet, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu integrieren. In Hamburg hat sie das sehr lange nicht geschafft. Dort sind das fortschrittliche Bürgertum und die Arbeiterschaft immer ein Bündnis unter Führung der SPD eingegangen. Die konnte dann auch noch entsprechende Personen präsentieren, die die gesellschaftlichen Spaltungen überwölbt haben. Der CDU ist das nur mit Ole von Beust gelungen. Aber mit einem Etikett, das nur dem Anspruch, aber nicht der Realität entsprach. Denn die Union in Hamburg ist keineswegs so modern, so tolerant, so liberal - von marktliberal mal abgesehen, wie von Beust es signalisiert hat. Insofern ist das Ergebnis auch nicht allzu überraschend, weil es zum einen auf das persönliche Verhalten von Beusts zurückgeführt werden kann. Zum anderen ist aber auch deutlich geworden, dass in der CDU in Hamburg der Konsensbruch, der mit der Schulpolitik eingetreten ist, nicht akzeptiert wurde. Schließlich war von Beust angetreten, die Spaltung der Union zu verdecken und nach außen eine geschlossene Partei vorzugaukeln.

Hat Ole von Beusts Rücktritt dem Projekt, die CDU als moderne Großstadtpartei neu zu erfinden, geschadet?

Neugebauer: Mit dem Rücktritt hat die Repräsentationsfigur ungewollt zu erkennen gegeben, dass die Partei noch nicht reif ist für genau diese Entwicklung. Das ist möglicherweise auch eine Erkenntnis, die von Beust aus den Auseinandersetzungen innerhalb der Union gewonnen hat. Wenn es ihm nicht gelungen ist, über die Bürgerschaftsfraktion hinaus die Partei zu motivieren, ihm gerade bei einem Projekt zu folgen, in dem deutlich wurde, dass soziale Spaltungen in der Gesellschaft durch bestimmte Formen der schulischen Integration überwunden werden können, muss man schon sagen: Eine Partei, die nur in manchen Vierteln zu Hause ist, weiß eben doch nicht so genau, was in der Mitte der Stadt immer so los ist.

Unionspolitiker deuten die herbe Niederlage vor allem als "Kollateralschaden" von Schwarz-Grün. Sind solche Bündnisse für die CDU künftig tabu?

Neugebauer: Angela Merkel hat ja verkündet, dass Schwarz-Grün ein Hirngespinst sei. Julia Klöckner dagegen sieht eine Perspektive für ein solches Bündnis auch in Rheinland-Pfalz. Fakt ist, dass die schwarz-grüne Koalition in Hamburg nicht nur die Union, sondern auch die Grünen etwas überfordert hat. Die Grünen haben zu sehr den Experten und ihren eigenen Überzeugungen vertraut und nicht gesehen, wie weit der Bewusstseinsstand unter den eigenen Anhängern tatsächlich ist --- und die haben dann doch lieber ihre Bildungsprivilegien verteidigt.

Die GAL hat sich verzockt?

Neugebauer: Ja, eindeutig. Gab es jetzt überhaupt irgendein überzeugendes Projekt für die Grünen angesichts der Tatsache, dass Verkehrs-, Umwelt- und Energiepolitik relativ weit hinten in den Problemzonen der Hamburger Bürger rangierten? Im Brennpunkt steht der Schul- und Bildungsbereich, und da haben die Grünen etwas abgeliefert, was man nicht von ihnen erwartet hat.

Stärkt Katja Sudings Abschneiden Westerwelle und die Bundes-FDP?

Neugebauer: Die Liberalen werden einen Teufel tun, etwas anderes zu behaupten. Tatsächlich ist es wohl so, dass sie den entscheidenden Schubs in die Bürgerschaft Wählern zu verdanken haben, die sonst die CDU gewählt hätten. Vielleicht sollte die FDP lieber eine subtile Leihstimmen-Kampagne führen, als darauf zu setzen, dass nette Gesichter und kurze Statements, die nichts über Inhalte aussagen, reichen, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Das entspricht überhaupt nicht den Anforderungen an eine Partei, die behauptet, den politischen Liberalismus zu vertreten.

Aus der Bundestagsfraktion der Linken hieß es in Richtung Hamburg: "Ihr habt uns den Arsch gerettet." Geben die 6,4 Prozent an der Elbe nach all den Querelen im Bundesvorstand der Partei Auftrieb - besonders in Sachsen-Anhalt?

Neugebauer: Nein, gar nicht. Die Linke in Sachsen-Anhalt ist eine Partei, die sehr pragmatische Politik macht, die aber ganz andere Probleme als in Hamburg zu bewältigen hat. In Sachsen-Anhalt ist der Arbeitsmarkt das zentrale Thema. Richtig ist: Der Einzug der Linken in die Bürgerschaft --- wenn auch mit weniger absoluten Stimmen als zuvor --- hat der Parteiführung den Arsch gerettet. Man kann das deshalb so unverblümt sagen, weil ohne dieses Ergebnis die Linke in eine heftige Diskussion über die Qualitäten ihrer Parteispitze geraten wäre und die Bundestagsfraktion sich hätte fragen müssen, was sie eigentlich noch an Themen zu bieten hat, die die Bevölkerung interessieren. Allein als Protestpartei fehlt der Linken die Perspektive. Wir haben es ja bei der Finanzkrise gesehen: Plötzlich redete sogar die FDP von Bankenverstaatlichungen.

Zu den Gewinnern: Was können die Genossen im Willy-Brandt-Haus von Olaf Scholz lernen?

Neugebauer: Nicht zu viel zu versprechen und Themen wählen, die den Bedürfnissen der Bürger gerecht werden. Das ist in einem überschaubaren Stadtstaat natürlich sehr viel leichter als auf Bundesebene. Wichtig ist eine langfristige Kampagne, und nicht nur kurzfristiges Reagieren --- wie Siegmar Gabriel es so gut kann. Für ein sozialdemokratisches Profil heißt das: wirtschafts- und sozialpolitische Themen so formulieren, dass für die unterschiedlichen Bereiche der Gesellschaft immer auch eine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit vermittelt wird. Das ist kein plumpes, eintöniges Bild von sozialer Gerechtigkeit, die sich nur durch Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums über das Steuersystem herstellen lässt. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten für Gerechtigkeit in der Familienpolitik, in der Bildungspolitik, in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Man kann sich nicht davor drücken, einen Markenkern zu entwickeln, den die Sozialdemokraten in letzter Zeit nur noch mühsam haben erkennen lassen: soziale Gerechtigkeit.

Und damit wird 2011 das Jahr der Sozialdemokraten?

Neugebauer: Der Erfolg in Hamburg beruht auf außerordentlich günstigen Bedingungen. Diese sind zu erklären durch die Schwäche der Union, durch das Verkalkulieren der Grünen und durch die Kampag"ne der Sozialdemokraten. Es gibt also mehrere Faktoren, die in Hamburg einzigartig gewirkt haben.

Hat sich "King Olaf" Scholz in Hamburg nicht so breit gemacht, dass die Partei hinter ihm gar nicht mehr zu erkennen war?

Neugebauer: Das war ein Teil seiner Strategie. Er hat seiner Partei Arbeit verordnet, und damit hat er sie gezwungen, sich auf Sachfragen zu konzentrieren und innerparteiliche Kontroversen auszublenden. Aber wenn die Situation sich entspannt, könnten alte Kämpfe durchaus wieder ausbrechen. Man kann nur hoffen, dass die "Kreisfürsten" klug genug sind, ihre Chancen nicht wieder zu versauen, denn spätestens in vier Jahren wird wieder gewählt.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Gespräch führte Klaus Bohlman)

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