Missbrauchsbeauftragter kritisiert Länder und fordert: Kampf gegen Kindesmissbrauch zur Chefsache machen
Archivmeldung vom 04.07.2020
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Freigeschaltet durch André OttDer unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, wirft den Landesregierungen schwere Versäumnisse vor und drängt sie, den Kampf gegen den sexuellen Kindesmissbrauch zur Chefsache zu machen. Rörig lobte in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ) das Reformpaket der Bundesregierung, das unter anderem Strafverschärfungen vorsieht.
Zugleich kritisierte er, dass die Politik immer erst Fälle brauche, die zu Skandalen würden, um Konsequenzen zu ziehen. Verwundert und verärgert zeigte er sich zudem darüber, "dass neben Nordrhein-Westfalen nicht alle anderen Bundesländer aktiver geworden sind nach den Fällen in Staufen, Bergisch Gladbach, Lügde und Münster".
Der Beauftragte der Bundesregierung appellierte an alle Länder, "dass sie endlich eine ordentliche Defizit- und Bestandsanalyse machen" - und zwar bezogen auf alle Ämter, die dem Kindeswohl dienen: Jugendämter, Ermittlungsbehörden, Justiz und Gerichte. "Wir müssen wissen: Wie ist die Arbeitsbelastung? Fehlt Personal? Ist Raum für kritische Reflexion im Team? Wie ist der Qualifizierungsstand?"
Bisher, so Rörig, erlebe er da eine ärgerliche und fatale Sturheit der Landesregierungen. "Das regt mich richtig auf. Man darf die Dinge nicht einfach so laufen lassen und nur hoffen, dass das eigene Bundesland nicht von einem Skandalfall betroffen ist. Ich finde das unverantwortlich."
Selbstverständlich wüssten die Länder auch, dass es ein großes Dunkelfeld gebe, das viel, viel größer sei als das Hellfeld, also die angezeigten Fälle. "Es geht folglich um das Schicksal von vielen Tausend Jungen und Mädchen", sagte Rörig der "NOZ". Er forderte: "Ihr Wohl zu schützen, muss sich jedes Land auf die Fahnen schreiben. Und der Schutz der Kinder muss Chefsache werden. Jeder Landesvater und auch jede Regierungschefin muss ehrlich sagen können: Ich tue wirklich in jeder Hinsicht das Maximum, um meine Landeskinder bestmöglich vor sexueller Gewalt zu schützen."
Das Reformpaket, das Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) vorgelegt hat, bezeichnete Rörig dagegen als sehr beeindruckend. "Viele unserer Forderungen finden sich darin wieder - zum Beispiel, dass sexueller Kindesmissbrauch kein Vergehen ist, sondern ein Verbrechen." Ihn freue auch, dass die Regierung sich nicht aufs Strafrecht beschränke, "sondern das Gesamtbild vor Augen hat, also auch die Prävention, das notwendige Zusammenspiel von Jugendämtern, Ermittlungsbehörden und Familiengerichten, Landesmissbrauchsbeauftragte und vieles mehr".
Missbrauchsbeauftragter will Tabus brechen und "Pakt gegen sexuelle Gewalt" begründen
Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig will einen "Pakt gegen sexuelle Gewalt" begründen, eine Art gesellschaftliche Bewegung für den Kinderschutz. Im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ) kündigte Rörig dazu eine neue Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne an.
Nach den Worten des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs geht es darum, "Tabus zu brechen und ein Bewusstsein zu schaffen für die Gefahren und Risiken, denen Kinder und Jugendliche durch sexuelle Gewalt ausgesetzt sind". Alle in der Bevölkerung müssten wissen, was sexuelle Gewalt ist, wo sie anfängt. Richtungsweisend sei die Aids-Kampagne der 80er-Jahre, "die es geschafft hat, ein Tabu-Thema breit zu vermitteln und die öffentliche Wahrnehmung regelrecht zu drehen". "Wir möchten ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sexueller Missbrauch keine Ausnahmeerscheinung ist, sondern eine alltägliche Gefahr", so Rörig weiter. "Wir wollen erreichen, dass niemand mehr denkt: Irgendein anderer kümmert sich schon. Wir wissen nämlich: Meistens kümmert sich keiner. In der Schule, in der Kita, in den Kirchen, im Sportverein und in den Familien - überall müssen wir genau hinsehen."
Nach einem Beispiel gefragt, verwies Rörig unter anderem auf den Sport. Er betonte, Hilfestellungen müssten natürlich immer sein. "Aber wenn dem Trainer die Hand auf die Brust eines Mädchens rutscht, dann kann man in einem Verein einen Kodex haben, der sagt: Der Mann muss sich entschuldigen - und es darf kein zweites Mal passieren."
Die Kampagne soll laut Rörig außerdem aufzeigen, "wo man sich Hilfe holen kann, ohne sich der Gefahr auszusetzen, wegen übler Nachrede oder falscher Verdächtigung selber in eine schwierige Situation zu kommen". Das sei zum Beispiel durch eine Beratung beim Hilfetelefon des Beauftragten oder bei einer Fachberatungsstelle möglich.
Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung (ots)