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Experte: Wulff muss sich fragen, ob er Anforderungen erfüllt

Archivmeldung vom 05.01.2012

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 05.01.2012 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Christian Wulff (November 2009) Bild: Martina Nolte / de.wikipedia.org
Christian Wulff (November 2009) Bild: Martina Nolte / de.wikipedia.org

Das Schuldeingeständnis von Bundespräsident Christian Wulff im Fernsehen hat die Wucht der Kritik nicht vermindert. Fehler dürften Staatsoberhäupter durchaus machen, sagt der Staatsrechtler Prof. Dr. Joachim Wieland, entscheidend sei, wie sie damit umgingen. Und im Falle Wulffs seien noch viele wichtige Fragen offen, etwa die nach seinem Verständnis von Pressefreiheit.

Was würden Sie dem Bundespräsidenten in der derzeitigen Affäre raten?

Prof. Joachim Wieland: Das ist nicht leicht zu beantworten, zumal man dem Bundespräsidenten keine öffentlichen Ratschläge erteilt. Denn: Ratschläge können auch Schläge sein. Aber als Verfassungsrechtler kann ich die Anforderungen benennen, die das Grundgesetz an den Bundesprädidenten stellt: Er ist der höchste Repräsentant des Volkes und des Staates und neben dem Bundesverfassungsgericht der Hüter der Verfassung. Er ist eine moralische Instanz mit relativ wenig realer Macht, aber er wirkt durch Überzeugungskraft. Zudem hat er einen Eid geleistet, dass er das Grundgesetz bewahren und den Nutzen des deutschen Volkes mehren wird. Bundespräsident Wulff muss sich nach den Ereignissen der letzten Wochen fragen: Kann ich diesen Vorgaben gerecht werden? Kann ich mein Amt noch ausfüllen oder nicht? Es sind Fragen unbeantwortet. Es steht der Vorwurf im Raum, dass er zwar die Pressefreiheit in Reden hochgelobt, aber gleichzeitig versucht hat, auf die Berichterstattung von Journalisten einzuwirken. Nach dem Grundgesetz haben die Amtsträger im Staat die Journalisten als Träger der vierten Gewalt aber in Freiheit walten zu lassen.

Andere Staatsrechtler rie"ten bezogen auf die Ursprungsvorwürfe in Sachen Kreditnahme zur Selbstanzeige. Ein guter Rat?

Prof. Wieland: Der Bundespräsident muss sich nicht unbedingt selbst anzeigen, er muss vielmehr klarmachen, dass er sich korrekt verhalten hat. Denn es ist zumindest bemerkenswert, dass die Staatsanwaltschaft jetzt gegen den ehemaligen Sprecher Wulffs wegen des Verdachts der Annahme unzulässiger Vorteile ermittelt, während der Bundespräsident ebenfalls erhebliche Vorteile in Anspruch genommen hat. Noch ist kein Grund genannt worden, warum ihm die BW-Bank ein derart günstiges Darlehen gewährt hat. Es reicht nicht aus, zu sagen, da sei alles in Ordnung gewesen. Der Bundespräsident ist schon von seiner verfassungsmäßigen Stellung her verpflichtet, hier für vollständige Transparenz zu sorgen.

Bei der Vollständigkeit haperte es. Wie sehr hat Wulffs Salamitaktik beim Krisenmanagement die Affäre befeuert?

Prof. Wieland: Dieses nur stückweise Zugeben von dem Präsidenten unangenehmen Wahrheiten hat die gesamte Krise erst hervorgerufen. Wenn Wulff von vornherein alles auf den Tisch gelegt und mangelnde Geradlinigkeit eingeräumt hätte, wäre das Ganze harmloser geblieben. Auch Präsidenten dürfen Fehler machen. Entscheidend ist, wie Menschen in so hohen Positionen mit ihren Fehlern umgehen.

Sie haben über die "Freiheit des Rundfunks" promoviert. Hat Wulff mit seinen Anrufen den Rubikon überschritten?

Prof. Wieland: Wenn er tatsächlich durch Anrufe bei Verlegern und Chefredakteuren versucht haben sollte, eine Berichterstattung in seinem Sinne zu beeinflussen, wäre das ein Verstoß gegen das Grundrecht der Pressefreiheit. Das wäre nicht leicht hinzunehmen. Das Grundgesetz sieht in Artikel 61 vor, dass Bundestag oder Bundesrat den Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht anklagen können, wenn er vorsätzlich gegen die Verfassung verstößt. Hier besteht ganz erheblicher Klärungsbedarf.

Nach einer Anklage durch den Bundestag sieht es derzeit nicht aus. Der zweite Mann im Staate, Bundestagspräsident Lammert, kritisierte die Medien für ihr Vorgehen. Zu Recht?

Prof. Wieland: Ich kann auf Seiten der Medien kein Fehlverhalten erkennen. Es ist die Aufgabe der Medien, die Politiker kritisch zu begleiten und Dinge, die die Betroffenen nicht gern in der Öffentlichkeit diskutiert sehen, ans Licht zu bringen. So funktioniert eine parlamentarische Demokratie, die auf öffentliche Diskussion angewiesen, damit sich auch die Inhaber hoher Staatsämter bewusst sind, dass sie den Bürgern Rechenschaft schulden für ihr Handeln. Die Medien erfüllen hier eine Mittlerfunktion. Und im Falle des Bundespräsidenten Wulff haben sie die bisher sehr gut erfüllt.

Das Bundespräsidentenamt lebt von der Glaubwürdigkeit der Amtsträger. Haben der Rücktritt von Horst Köhler und die Affäre Wulff das Amt beschädigt?

Prof. Wieland: Bislang noch nicht. Die beiden Vorfälle waren auch ganz unterschiedlich: Bundespräsident Köhler trat zurück, weil er für Äußerungen über die Möglichkeiten eines Einsatzes der Bundeswehr zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen Deutschlands kritisiert worden war. Hier kann man sagen, Horst Köhler hat besonders empfindlich auf diese Kritik reagiert, die ihm in seinen Augen die Führung seines Amtes sehr erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht habe. Darüber kann man unterschiedlicher Auffassung sein, aber man muss es respektieren. Im Fall Wulff geht es um die Frage, ob der Bundespräsident seine Pflichten erfüllt hat, seinem Amt gerecht wird oder ob es dort Missstände gibt. Hier besteht eine Bringschuld des Bundespräsidenten. Wenn er darlegen kann, dass er sich korrekt verhalten hat, beziehungsweise, wo er Fehler gemacht hat, wird das Amt nicht beschädigt. Die Bundesrepublik Deutschland ist hinreichend gefestigt, dass sie auch das Fehlverhalten hoher Amtsträger ertragen kann.

Das höchste Amt im Staat ist ein merkwürdiger Zwitter. Einerseits hat es fast nur repräsentativen Charakter, andererseits galt Kritik an der Amtsführung lange als tabu. Sollte es abgeschafft werden?

Prof. Wieland: Das Amt ist nicht überflüssig. Es ist wichtig, dass die Einheit des Staates in einem Amtsträger zum Ausdruck kommt. Seine Aufgabe ist es, eine moralische Instanz zu sein, durch Worte zu wirken. Anders als Minister, Kanzler oder Abgeordnete ist er nicht in den täglichen Machtkampf verwickelt, sondern kann losgelöst vom politischen Alltag der Politik Sinn und Richtung vorgeben. Die Erfahrung, die die Bundesrepublik mit ihren bisherigen Präsidenten gemacht hat, waren durchaus positiv. Denken sie an Theodor Heuss, Gustav Heinemann, Richard von Weizsäcker oder Roman Herzog. Sie alle trugen zur politischen Kultur Wesentliches bei.

Sie sagten, die Verfassungsväter ließen dem Staatsoberhaupt als stärkste Waffe wenig mehr als das Wort. Würde die Demokratie davon profitieren, wenn das Amt als Korrektiv des Bundestags aufgewertet wird?

Prof. Wieland: Ich bin skeptisch, ob das in unserem Verfassungsgefüge sinnvoll wäre. Würde man dem Bundespräsidenten mehr konkrete Machtbefugnisse einräumen, bedeutete dies einen Wandel von der parlamentarischen zur Präsidialdemokratie nach Art der USA oder Frankreichs. Das Parlament würde geschwächt, im Ergebnis käme es zu Machtkämpfen zwischen dem Bundespräsidenten auf der einen Seite und Regierung sowie die sie tragende Parlamentsmehrheit auf der anderen Seite. Das gab es in der Weimarer Republik mit verheerenden Folgen für Deutschland.

Ist es kein Anachronismus angesichts der bewährten, reifen Demokratie der Bundesrepbublik noch auf die Weimarer Republik zu verweisen?

Prof. Wieland: Nein, dies ist kein Anachronismus. Einem direkt vom Volk gewählten Präsidenten müssten auch mehr Befugnisse eingeräumt werden. Sonst wäre es den Bürgern kaum zu vermitteln, warum sie zur Wahl gehen sollen. Hätte der Bundespräsident aber mehr Macht, müsste auf der anderen Seite die Macht der Regierung und der Parlamentsmehrheit geschmälert werden. Schließlich gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Zuständigkeiten. Der entstehende Dualismus könnte leicht zu Blockaden führen. Ein Problem, das wir vermeiden sollten, auch angesichts der guten Erfahrungen, die wir -- im internationalen Vergleich -- in den gut 60 Jahren mit unserem parlamentarischen System gemacht haben.

Man hat ein Amt geschaffen, das als moralische Instanz über dem politischen Alltag schweben soll. Was bleibt davon, wenn ein Präsident unmoralisch handelt?

Prof. Wieland: Wenn ein Präsident unmoralisch handelt, bleibt wenig davon. Dann erfüllt er sein Amt nicht mehr. Wird er den Anforderungen seines Amtes nicht gerecht, leidet die Stellung des Bundespräsidenten in unserem politischen Gefüge. Bisher trat dieser Fall noch nicht ein. Bei einem Scheitern müssen aber entsprechende Konsequenzen gezogen werden.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg / Das Interview führte Joachim Zießler (ots)

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