,,Abwarten reicht nicht für Politiker" - Interview mit SPD-Chef Franz Müntefering
Archivmeldung vom 21.03.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNicht mal die Wirtschaftskrise kann das Koalitionsgerangel unterbinden. SPD und Union streiten über die staatliche Reaktion auf den Kollaps des Finanzkapitalismus. Streit, der für Franz MÏntefering (69) zur Demokratie dazugehört. Dennoch plädiert der SPD-Chef im Interview mit der LZ für einen kurzen, intensiven Wahlkampf.
Bis dahin stünden die Interessen des Landes im Vordergrund. Und die erforderten schnelles Handeln: "Abwarten reicht nicht. Dann hätte Politik keine Existenzberechtigung mehr."
Jüngst attestierten Sie der SPD "Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge". Schlägt in der Finanzkrise, die den Staat als Retter fordert, die Stunde der Sozialdemokratie? Franz Müntefering: Ein großes Wort. Aber soviel ist klar: die Luft ist wieder voll mit sozialdemokratischen Themen. Das Soziale und Demokratische wird Bewegung. Und wir stehen im Zentrum dieser Entwicklung. Wir wissen, was wir wollen: soziale Gesellschaft, Sozialstaat, soziale Partnerschaft und soziale Marktwirtschaft. Dieser klare Kompass hilft bei der Überwindung der Krise.
Ein kraftvoller Staat schreckt die SPD weniger als die Union. Hilft Ihnen die Krise im Wahlkampf? Müntefering: Darum geht es nicht. Es geht darum, die Krise zu überwinden und neue Regeln zu finden, damit so etwas in der Zukunft nicht wieder passiert. Da haben wir als Sozialdemokraten bisher die richtigen, pragmatischen Antworten gegeben: mit dem Konjunkturpaket und unseren Vorschlägen für eine neue Regulierung der Finanzmärkte. Wie sich die Krise weiterentwickeln wird, weiß man noch nicht. Noch ist offen, wie das Jahr läuft. Und entsprechend wird es auch ein besonderer Wahlkampf in einem besonderen Jahr werden. Die 9er-Jahre brachten in der deutschen Geschichte ja oft wichtige Weichenstellungen. Das kann dieses Jahr wieder so sein. Mit Blick auf die Bundestagswahl im Herbst sind wir gut in der Zeit. Wir können und werden Schwarz-Gelb aufhalten. Das wollen wir, weil Marktradikalismus die falsche Antwort ist. Wir kämpfen dafür, dass Frank-Walter Steinmeier ins Kanzleramt einzieht.
Die Union zaudert beim Gesetz gegen Steueroasen. Verlässt die Kanzlerin der Mut? Müntefering: Das ist ein Problem. Ich kann der Union nur dringend empfehlen, das nicht weiter zu verschleppen. Zur Neuordnung der Finanzmärkte gehört auch das Steueroasenbekämpfungsgesetz. Das hängt jetzt schon seit 14 Tagen durch. Ich hoffe aber, dass sich die Union bald bewegt. Das Zeitfenster ist zu schmal, als dass wir lange zuwarten können. Ähnliches gilt für die Managergehälter. Wir haben uns zwar auf einiges verständigt. Doch bei der Begrenzung der Absetzbarkeit von Gehältern über eine Million Euro will die Union bisher nicht mitgehen - aus ideologischen Gründen. Eine ähnlich komische Zurückhaltung legen einige Unionspolitiker, auch bei notwendigen Rettungsmaßnahmen für große Industrieunternehmen an den Tag. Dabei ist Eile geboten.
Diese Koalitions-Streitigkeiten schwächten die Union und stärkten die FDP. Setzt die SPD jetzt verstärkt auf wirtschaftspolitische Reizthemen? Müntefering: Wir wollen Lösungen der Probleme, Frau Merkel zaudert und zögert und stimmt im Zweifel gegen sich selbst, wenn die Mehrheitsverhältnisse in ihrer eigenen Truppe gerade mal so sind, wie jüngst bei der notwendigen Reform der Jobcenter. Das ist Geschäftsführung, nicht Führung der Bundesregierung und wird dem Gestaltungsanspruch von Politik nicht gerecht. Für mich ist unbegreiflich, wie eine Kanzlerin so etwas machen kann. Derzeit fehlt der Union die klare Linie, nicht zuletzt, weil die CSU so auf Krawall gebürstet ist, dass sie unzurechnungsfähig ist. Das belastet natürlich auch die Koalition im Ganzen. Da hätte Frau Merkel als Kanzlerin auch mal auf den Putz hauen müssen, um der Schwesterpartei die Grenzen aufzuzeigen.
Hat das Kabinett das Regieren eingestellt, weil die große Koalition Wahlkampf führt? Müntefering: Nein, das Kabinett ist handlungsfähig -- zuallererst dank der Sozialdemokraten im Kabinett mit Frank-Walter Steinmeier an der Spitze. Wir werden weiter die Handlungsfähigkeit der Koalition sicher stellen. Bundestagswahlkampf wird erst im August/September sein. Das ist auch Zeit genug. Bis dahin muss man sich im Interesse des Landes auf die anstehenden Aufgaben konzentrieren.
Kann die Opel-Rettung noch aus dem Wahlkampf rausgehalten werden oder wird das ein bloßer Stimmenfänger? Müntefering: Die Zeit drängt. Jetzt geht es darum, dass der Mutterkonzern liefert. Wenn wir Opel in Europa helfen wollen -- und das wollen wir--, muss es ein Abschottungskonzept geben. Geld, das hier reingepumpt wird, darf nicht in den USA landen. Auch die Frage der Patente und der technischen Entwicklung muss geklärt werden. Hier darf nicht gezögert werden. Die Grundsatzfrage ist: Wartet man ab, welche Argumente es geben kann, nicht zu helfen oder versucht man die Bedingungen zu schaffen, damit Opel stabilisiert werden kann? Und da bin ich eindeutig für Letzteres. Leichtfertigkeit verbietet sich. Indus"trie ist die Grundlage unseres Wohlstandes. Und das wird auch so bleiben. Zum Glück fuhren wir hier einen anderen Kurs als die Briten, die voll auf den Finanzmarkt setzten und jetzt in der Krise stärker abstürzen. Deindustrialisierung wäre für ganze Landstriche eine Katastrophe. Diese Erfahrung haben wir nach dem Fall der Mauer in den neuen Bundesländern gemacht. Deshalb muss man um jedes Unternehmen und jeden Arbeitsplatz kämpfen. Abwarten, ob sich das von alleine löst, ist nicht hinreichend. Dann hätte Politik keine Existenzberechtigung mehr.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Joachim Zießler)