Nahles: Sozialdemokratie orientiert sich wieder an den Bedürfnissen der Bürger
Archivmeldung vom 12.03.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDiese Chance kam unverhofft. Eigentlich sah Andrea Nahles die SPD noch nicht als Regierungspartei im Wartestand. Zu vernichtend war die Niederlage bei den Bundestagswahlen. Doch der Stotterstart der Bundesregierung und die Sponsoring-Affäre von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sorgen für rot-grüne Träume in der Baracke.
Die Lüneburger Landeszeitung sprach mit SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles über den Lichtblick im sozialdemokratischen Jammertal.
"Basta mit basta und abnicken" sollte sein nach dem Debakel bei der Bundestagswahl. Wie weit ist die SPD mit ihrer Erneuerung als Sammlungspartei in der Opposition?
Andrea Nahles: Wir sind sozusagen wegen Umbau geöffnet. Die ersten Weichen in Richtung stärkerer Beteiligung von Mitgliedern und Anhängern sind gestellt. Wir bringen jetzt eine Befragung aller 10000 SPD-Ortsvereine auf den Weg, um deren Anregungen und Kritik aufzunehmen. Darüber hinaus wollen wir aber auch mit den Bürgern stärker ins Gespräch kommen. So besucht etwa Sigmar Gabriel zehn Ruhrgebietsstädte mit ganz extremen Haushaltsproblemen. Ähnlich wie beim Thema Afghanistan wird die Parteiführung auch bei den schwierigen Problemfeldern "Rente mit 67" und "Hartz IV" eine Diskussionsgrundlage erarbeiten. Bei der Willensbildung der SPD ist dann jeder aufgefordert, sich zu beteiligen. Das birgt für die Parteiführung natürlich die Gefahr der Veränderung unseres Ansatzes. Aber wir wollen nicht mit der Keule überzeugen, sondern mit der Kraft unserer Argumente.
Mitgliederschwund, Überalterung -- strukturelle Probleme wurden im "Kanzlerwahlverein" SPD oft ausgeklammert. Erleichtert Machtlosigkeit innerparteiliche Diskussionen?
Andrea Nahles: Wir sind nach der verlorenen Bundestagswahl nicht wie befürchtet in Depressionen gefallen. Wir haben uns gut aufgestellt und gehen systematisch ans Werk. Außerdem tut uns die neue Bundesregierung den Gefallen, jeden Tag zu beweisen, dass sie nicht regieren kann. Das brachte auch denjenigen unserer Anhänger, die kritisch gegenüber der Regierungspolitik der SPD in elf Jahren sind, Selbstbewusstsein zurück. Jetzt ist erkennbar, wie stark die große Koalition von der Arbeitsleistung sozialdemokratischer Minister gelebt hat. Das hat uns geholfen, in kürzerer Zeit in unsere Oppositionsrolle zu finden und -- etwa in Nordrhein-Westfalen -- Anlauf nehmen zu können, wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Eingeklemmt zwischen den "Arbeiterführern" Rüttgers und Lafontaine drohte der SPD das 20-Prozent-Ghetto. Wie ist jetzt die Perspektive nach Oskars Rückzug und Rüttgers` Sponsoring-Affäre?
Andrea Nahles: Wir wissen nicht, wie sich beim Urnengang in Nordrhein-Westfalen der gesundheitsbedingte Rückzug des wichtigsten aus dem Westen stammenden Politikers der Linken auf deren Wählerschaft auswirkt. Wir vermuten aber -- negativ. Und das ist gut so, denn wer seine Stimme der Linkspartei gibt, gefährdet den Regierungswechsel. Rüttgers hat sich selbst am meisten geschadet. Die Bürger wissen sehr wohl zu unterscheiden zwischen Sponsoring und Käuflichkeit. Sponsern lässt sich mittlerweile jeder Kaninchenzuchtverein. Der Verkauf von Gesprächen mit einem Amtsträger -- einem Ministerpräsidenten -- für 6000 Euro ist aber nah an der Korruption.
Nach Umfragen droht Schwarz-Gelb in NRW eine Niederlage. Warum schlägt sich deren Stimmungstief nicht positiver auf die SPD-Werte nieder?
Andrea Nahles: Das tut es doch in NRW: Rot-grün ist eine realistische Perspektive. Was den Bund angeht: Wer über Jahre Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren hat, der muss erkennen, dass es nicht mit ein paar guten Interviews und Attacken getan ist. Vertrauen ist ein sensibles Gut, es wächst nur langsam. Deshalb stehen wir noch am Anfang.
Bringt Hannelore Kraft in NRW aus Verzweiflung die Ampel ins Spiel? Von den Grünen kam bereits ein klares Nein.
Andrea Nahles: Unser Ziel ist Rot-Grün und diese Konstellation scheint nach den Umfragen möglich. Alles andere muss die NRW-SPD nach der Wahl entscheiden.
Hartz-IV-Empfänger sollen Straßen fegen. Versucht die SPD jetzt mit Hannelore Kraft die FDP auf der Populismus-Schiene zu überholen?
Andrea Nahles: Nein. Frau Kraft hat ein klares Gegenmodell zu Westerwelle entworfen. Denn sie hat den Langzeitarbeitslosen nicht unterstellt, dass sie sich in einen leistungslosen Wohlstand zurücklehnen, oder gar von "spätrömischer Dekadenz" fabuliert. Diejenigen, die lange arbeitslos sind, haben oft mehrere Vermittlungsprobleme gleichzeitig. Also ist deren Integration in den ersten Arbeitsmarkt schwierig. Aber man kann sie in einen "sozialen Arbeitsmarkt" integrieren, zum Teil mit sozialpädagogischer Betreuung, wie von Frau Kraft vorgeschlagen. Das wäre gegenüber den 1-Euro-Jobs von heute eine Verbesserung.
Wird diese Differenzierung von denjenigen wahrgenommen, die betroffen sind oder den sozialen Abstieg fürchten?
Andrea Nahles: Ja - zumal der Ausbau des sozialen Arbeitsmarktes eine Forderung ist, die die Gewerkschaften seit Jahren erheben.
Die CDU flirtet immer häufiger mit der Option Schwarz-Grün. Warum tabuisiert die SPD eine Koalition mit der Linken?
Andrea Nahles: Von Tabuisieren kann keine Rede sein, da z.B. in Berlin seit 2001 eine entsprechende Koalition erfolgreich arbeitet. Wir sind prinzipiell so verblieben, dass diese Frage die Landesverbände für sich entscheiden müssen. Auf der Bundesebene liegen wir bei 23 Prozent. Da ist es jetzt nicht unser Anliegen, theoretische Koalitionsspielchen zu betreiben, sondern selbst an Stärke zu gewinnen. Zudem mangelt es der Linkspartei derzeit an einer handlungsfähigen Parteispitze, die imstande wäre, ein Programm zu verabschieden, das ihnen immer noch fehlt. Und solange die Linkspartei etwa in der Außenpolitik nicht wahrhaben will, dass Deutschland keine Insel ist, sondern Bündnisverpflichtungen zu erfüllen hat, brauchen wir über eine Annäherung im Bund nicht nachdenken.
Kann die SPD der Linken Stimmen abjagen, indem sie zum Teil deren Positionen übernimmt?
Andrea Nahles: Wir sollten uns an dem orientieren, was die Menschen umtreibt. Das wird auch zu Veränderungen von politischen Beschlüssen der SPD führen. Aber unser Kompass dabei ist nicht die Linkspartei, sondern sind die Menschen draußen im Land. Wir werden keine Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, indem wir uns gegenüber anderen Parteien abgrenzen oder ihnen nachlaufen, sondern, indem wir ran an die Menschen gehen -- wie wir in Rheinland-Pfalz sagen würden. Und unsere Überzeugung vertreten.
Weist dieser Kompass auf einen Kurs des Bruches mit der eigenen Regierungspolitik? Wenn Zusatzbeiträge so schlecht sind, warum hat die SPD sie in der Großen Koalition mitgetragen?
Andrea Nahles: . Ich werde nicht jeden Kompromiss der großen Koalition verteidigen. Wenn sich Kompromisse, um die wir monatelang in der großen Koalition gerungen haben, etwa die Zusatzbeiträge, als trojanisches Pferd erweisen, um die große Kopfpauschale einzuführen, müssen sie abgeschafft werden.
Attackiert die SPD auch künftig von den Positionen der Linken aus ihre eigene Regierungspolitik?
Andrea Nahles: Nein. Das haben wir nicht getan und tun wir auch nicht.
In den Momenten, in denen Sie ein Versinken der SPD in Depressionen befürchteten, bangten Sie da auch um deren Charakter als Volkspartei?
Andrea Nahles: Eigentlich nicht, weil ich den Charakter nicht nur nach Quantitäten bemesse, sondern daran, ob man sich dem Gemeinwohl und nicht nur Einzelinteressen verpflichtet. Und die SPD versuchte schon immer, die berechtigten, widerstreitenden Interessen so zusammenzuführen, dass sich alle in unserem Lande gut aufgehoben fühlen. In diesem Sinne wird die SPD immer Volkspartei bleiben. Um das Gewicht als Volkspartei aber entsprechend in die Waagschale werfen zu können, müssen wir deutlich stärker werden.
Kann das noch klappen angesichts des wegbrechenden gewerkschaftlichen Sozialmilieus, das traditionell sozialdemokratische Orientierungen hervorrief?
Andrea Nahles: Es ist in der Tat nicht mehr selbstverständlich, dass junge Gewerkschafter SPD-Mitglieder sind. Die Frage ist: Gibt es noch einmal eine Renaissance der politischen Entscheidungsbildung über Parteien? Ich glaube wir brauchen auch in Zukunft Parteien, deshalb öffnet sich die SPD und probiert neue Beteiligungsmöglichkeiten aus. Schlimm wäre nicht, wenn dabei mal was danebengeht. Schlimm wäre, wenn wir es nicht versucht hätten.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Joachim Zießler)