Jahn: Kindern keine Geschichtsbilder zu DDR-Vergangenheit verordnen
Archivmeldung vom 26.07.2014
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, warnt davor, nachfolgenden Generationen in der Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit ein Geschichtsbild vorzugeben. Damit werde man „der Sache nicht gerecht“, sagte Jahn in einem Interview der Wochenzeitung „Das Parlament“. Es sei ihm sehr wichtig, den nächsten Generationen die Chance zu geben, sich zu informieren. Er wolle die Kinder nicht dazu verpflichten, aber ihnen „die Möglichkeit geben, sich mit dem Land auseinanderzusetzen, in dem ihre Eltern gelebt haben, und sie befähigen, ihren Eltern Fragen zu stellen“. Wichtig sei, ihnen Informationen an die Hand zu geben, mit denen sie sich dann frei auseinandersetzen können. Geschichtsbilder dürften „nicht verordnet werden“.
Zugleich gestand Jahn, der in der DDR als Bürgerrechtler inhaftiert und zwangsausgebürgert worden war, jedem die Freiheit zu, „individuell“ die Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen Schlussstrich zu ziehen. Man lebe aber in einer Gesellschaft von Menschen, die einander begegneten. Deswegen sei es wichtig, die Konflikte der Vergangenheit aufzulösen. Die Täter könnten auch von einer Last befreit werden, wenn sie sich zu ihrer Biografie bekennen. Es gebe viele Beispiele, bei denen Menschen sich zu ihrer Verantwortung bekannt befreit hätten und damit auch ihren Weg in die heutige Gesellschaft ebneten. Ihm sei das jedoch „noch viel zu wenig“. Gerade bei hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern und SED-Funktionären gebe es immer noch viel zu viel Rechtfertigung.
Umso wichtiger sei ein „Klima, in dem ein Bekenntnis zur Biografie Anerkennung und Respekt bekommt“, mahnte der Bundesbeauftragte. Es müsse offen über die eigene Rolle in der SED-Diktatur gesprochen werden können, „ohne dass gleich Leute in eine Ecke gestellt werden“. Dabei sei es immer am besten, sich selbst zu fragen, wo hat man mitgemacht und sich untergeordnet hat und wie es dazu gekommen ist. „Dann haben wir wirklich eine Chance zu begreifen, wie Diktatur funktioniert, unter welchen Zwängen wir funktioniert haben, und auch eine Chance zu sagen: Was haben wir daraus gelernt, was sollten wir heute in unserer Gesellschaft besonders beachten?“, fügte Jahn hinzu.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Jahn, als vor 25 Jahren die Mauer fiel, lebten Sie im Westteil Berlins. Wie haben Sie die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 erlebt?
Jahn: Ich war im Sender Freies Berlin und habe dort eine Sondersendung mitgestaltet zur Öffnung der Mauer. Das war schon sehr bewegend, die ersten Bilder von der Grenzöffnung zu sehen und sie in der ARD zu kommentieren. Mir wurde mit den Bildern bewusst, dass es die Menschen, die friedlichen Demonstranten auf den Straßen waren, die die Mauer geöffnet haben. Diese Bilder haben mir deutlich gemacht, dass die Menschen die Kraft haben, eine Gesellschaft zu verändern – bis hin zum Mauerfall.
In West-Berlin waren Sie, weil die DDR Sie als Dissident nicht nur ein-, sondern 1983 auch ausgesperrt hatte: abgeschoben und ausgebürgert. Was bedeuteten damals Mauer und Mauerfall für Sie persönlich?
Jahn: Für mich löste sich eine Zwangssituation auf. Ich lebte zwar vor der Mauer und doch hinter ihr in West-Berlin, und die Trennung von meiner Familie und meiner Heimat in Jena hatte mich stets bewegt. Mit dem Mauerfall konnte ich endlich wieder in meine Heimatstadt zu meinen Eltern, konnte endlich wieder Freunde in der DDR besuchen.
Sie waren vorher schon einmal in die DDR zurückgekehrt, heimlich, trotz Zwangsausbürgerung. Wie hat man sich das denn vorzustellen?
Jahn: Ich hatte immer nach einer Chance gesucht, zurückzukommen, versuchte etwa, mit Auto oder Zug im Transit durch die DDR zu reisen, um dabei eine solche Möglichkeit zu finden. Aber ich durfte nur fliegen – und bin dann über Prag geflogen, in BerlinSchönefeld gelandet und dort etwas locker kontrolliert worden; ich war da so durchgerutscht. Der Grenzer hatte mir die Möglichkeit gegeben, mit der S-Bahn nach West-Berlin zu fahren vom Bahnhof Friedrichstraße aus, und um dort hinzukommen, konnte ich von Schönefeld aus die S-Bahn benutzen. Das war natürlich für mich die Gelegenheit, Freunde in Ost-Berlin zu besuchen. Und für mich war klar, dass ich nach Hause muss. Ich bin dann in der Nacht im Trabbi eines Freundes nach Jena gefahren.
Ohne Angst, erwischt zu werden?
Jahn: In der Situation war einfach der Drang, nach Hause zu fahren, viel, viel größer als die Angst. Über die Folgen habe ich mir gar keine Gedanken gemacht. Erst einen Tag später habe ich dann mit Freunden in Ost-Berlin beratschlagt, was wir nun machen.
Sie hatten dabei mit dem Gedanken gespielt, in der DDR zu bleiben und unterzutauchen. Wie realistisch war das?
Jahn: Das war die Frage. Was wird sein, wenn ich jetzt hier bleibe? Wir haben lange überlegt, ob ich nach Vorbild der polnischen Opposition in den Untergrund gehen soll. Reinhard Schult etwa, der später am Runden Tisch als Vertreter des Neuen Forum bekannt wurde, schmiedete schon konkrete Pläne, wo er mich wie verstecken kann. Aber mir war klar, dass ich ein Mann der Aktion war, der nicht im Untergrund Bücher schreibt, sondern mit seinem Handeln öffentlich wirken will. Auch wollten meine Freunde jemanden in West-Berlin haben, der ihr Anliegen in die West-Presse bringt, die es dann über Rundfunk und Fernsehen wieder in die DDR zurückstrahlt. Und die Unterstützung mit Büchern, Zeitschriften, später mit Videokameras und Druckmaschinen: Das war für die Freunde im Osten wichtig. Darum baten sie mich, wieder in den Westen zu fahren.
Und wie sind Sie dorthin zurück?
Jahn: Lutz Rathenow und Ralf Hirsch hatten Kontakte zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik und auch zu West-Journalisten. Die informierten sie darüber, dass ich in der DDR bin, und haben dafür Sorge getragen, dass die Ständige Vertretung bei den DDR-Behörden deutlich macht, dass das ohne einen Konflikt über die Bühne gehen soll…
Die DDR-Behörden wussten dann, dass Sie da sind?
Jahn: Das kann ich nicht genau einschätzen, ich habe die Akten dazu noch nicht gelesen. Auf alle Fälle ging ich an die Grenze, und dort versuchte man mehrere Stunden, mich zu vernehmen. Nachdem das nicht ergiebig war, ließ man mich mit der S-Bahn Richtung Bahnhof Zoo nach West-Berlin fahren.
Den Staat ablehnen, aber so sehr an der Heimat hängen, dass man eine solche Reise riskiert – war das auch Ihr Antrieb, gegen die SED-Herrschaft zu opponieren?
Jahn: Ich bin ja nicht als Staatsfeind geboren worden, sondern regelrecht dazu erzogen worden. Es gab immer Umstände, die ich als ungerecht empfunden und gegen die ich mich zur Wehr gesetzt habe. Das fing an mit langen Haaren in der Schule, die wir nicht tragen durften, ging über meinen Rausschmiss von der Universität, weil ich meine Meinung zur Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann gesagt hatte, bis hin zu meiner Verhaftung und Ausbürgerung. Wer erlebte, wie etwa Meinungsfreiheit eingeschränkt wurde, entwickelte eine grundsätzliche Ablehnung des Systems in der DDR – ich jedenfalls und andere auch.
Bei Ihrer Abschiebung wurden Sie unter einem Vorwand auf ein Amt gelockt und von dort gewaltsam in einen Zug Richtung Westen verfrachtet...
Jahn: Ich wurde an den Grenzbahnhof Probstzella gebracht, wo der Interzonenzug nach München hielt, und von einem Polizisten in Knebelketten auf den Bahnsteig geführt. Ich fragte ihn, ob ihm klar ist, dass er mich wegbringt aus meiner Heimat, wo meine Eltern und Freunde sind, und was er sagen würde, wenn das mit seinem Sohn gemacht würde. In dem Moment spürte ich nur, wie die Knebelketten enger zugezogen wurden, und konnte nur noch schreien vor Schmerz.
Ähnliches sagten Sie auch während Ihrer Haftzeit 1982/83 zu den Stasi-Leuten. „Irgendwann komme ich hier raus und dann werde ich euren Kindern erzählen, was ihr hier getrieben habt“. So haben Sie das später wiedergegeben.
Jahn: Ja: Ein Versuch, ihnen ins Gewissen zu reden. Die waren ja keine Roboter, sondern Menschen, die Familie hatten, die meine Nachbarn hätten sein können. Deswegen war mir wichtig, sie herauszufordern und zu sagen: Denkt doch mal, was eure Kinder dazu sagen würden, was ihr hier macht. Ich wollte, dass sie über ihre individuelle Verantwortung für ihr Tun nachdenken.
Denken sie denn jetzt darüber nach?
Jahn: Es gibt viele Beispiele, bei denen Menschen sich zu ihrer Verantwortung bekannt und dadurch von einer Last befreit haben und damit auch ihren Weg in die heutige Gesellschaft ebnen. Aber mir ist das noch viel zu wenig. Gerade bei hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern, gerade auch bei den Funktionären der SED, gibt es immer noch viel zu viel Rechtfertigung. Umso wichtiger ist ein Klima, in dem ein Bekenntnis zur Biografie Anerkennung und Respekt bekommt. Wir hatten letztens eine Veranstaltung zur Häftlingsarbeit in Gefängnissen, bei der sich ein ehemaliger Gefängniswärter offen zu seiner Verantwortung bekannt hat und ehemalige Häftlinge im Publikum Beifall klatschten. Da wurde deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit Verantwortung möglich ist, die gleichzeitig dazu beiträgt, dass die Wunden der Opfer geheilt werden. Solche Erlebnisse machen mich doch auch optimistisch.
Was braucht es für ein solches Klima?
Jahn: Mir ist wichtig, dass offen über die eigene Rolle in dieser Diktatur gesprochen werden kann, ohne dass gleich verurteilt wird, ohne dass gleich Leute in eine Ecke gestellt werden. Da ist immer am besten, bei sich selbst anzufangen, sich zu fragen, wo hat man mitgemacht, wo hat man sich untergeordnet, wie ist es dazu gekommen? Dann haben wir wirklich eine Chance zu begreifen, wie Diktatur funktioniert, unter welchen Zwängen wir funktioniert haben, und auch eine Chance zu sagen: Was haben wir daraus gelernt, was sollten wir heute in unserer Gesellschaft besonders beachten?
Versöhnt das mit der Vergangenheit?
Jahn: Versöhnung ist ein großes Wort, aber es kann dazu führen, dass man sagt: Es gab Situationen, in denen ich auch anders hätte handeln können. Es kann aber auch sein, dass man erkennt: Ich hatte gar keinen anderen Ausweg, als mich so und so zu verhalten – weil ich Rücksicht zu nehmen hatte auf andere, auf meine Familie, meine Kinder. Was ist klug? Mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen oder vielleicht einen Weg zu gehen, der sich langfristig als der bessere erweist? Gerade dann, wenn man Verantwortung für andere hat. Geht eine junge Frau zur Demonstration, obwohl sie zwei Kinder zu betreuen hat als Alleinstehende? Es gibt keine Pflicht zum Widerstand, auch nicht in der Diktatur. Für mich gibt es durchaus ein Recht auf Anpassung. Aber man sollte sich im Nachhinein klar werden, wie man Teil des Systems war.
War dieser Satz, alles später den Kindern zu erzählen, auch eine Art Selbstverpflichtung für Sie, über die Diktatur in der DDR aufzuklären?
Jahn: Mir ist schon sehr wichtig, den nächsten Generationen die Chance zu geben, sich zu informieren. Ich will die Kinder nicht dazu verpflichten, aber ich will ihnen die Möglichkeit geben, sich mit dem Land auseinanderzusetzen, in dem ihre Eltern gelebt haben, und sie befähigen, ihren Eltern Fragen zu stellen. Aber das muss sehr sensibel geschehen, denn wenn wir ein Geschichtsbild vorgeben, werden wir der Sache nicht gerecht. Wichtig ist, dass wir Informationen an die Hand geben, mit denen sie sich dann frei auseinandersetzen können. Es gibt die Freiheit der Wissenschaft, es gibt die Freiheit der Meinung, und Geschichtsbilder dürfen nicht verordnet werden.
Schließt das die Freiheit ein, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, einen Schlussstrich zu ziehen?
Jahn: Individuell sollte jeder diese Freiheit haben. Wir sind aber eine Gesellschaft von Menschen, die einander begegnen. Deswegen ist es wichtig, die Konflikte der Vergangenheit aufzulösen. Die Täter sollen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen können. Sie können auch von einer Last befreit werden, wenn sie sich zu ihrer Biografie bekennen. Auch alle anderen, die das System indirekt durch Anpassung gestützt haben, oder die dem System ausgesetzt waren und teilweise bis heute darunter leiden, sollen durch die Beschäftigung mit Informationen aus dieser Zeit aufarbeiten können, um in dieser Gesellschaft ein freies Leben zu führen – und um den nächsten Generationen unsere Erfahrungen zu übermitteln.
Interessieren die sich denn dafür?
Jahn: Erst mal interessiert sich die nächste Generation für sich selbst, und die jungen Menschen fragen dann schon, was das mit ihnen zu tun hat. Über den Bezug zu sich selbst, über die Frage, wie schütze ich mich vor Ungerechtigkeit im Hier und Heute, haben wir eine Chance, ihnen etwas mitzugeben. Gerade in der Beschäftigung mit der Vergangenheit, mit der DDR-Geschichte, können sie ihre Sinne dafür schärfen, wie Demokratie und Freiheit geschützt werden können.
Und machen sie das auch?
Jahn: Es gibt welche, die wollen gar nichts davon hören, aber auch ganz viele, die genau wissen wollen, wie die Diktatur funktioniert hat, wie die Menschen miteinander umgegangen sind. Wie ist es möglich, dass jemand seinen Schulfreund an die Stasi verraten hat? Wie ist es möglich, dass Menschen andere eingesperrt haben, nur weil die ihre Meinung gesagt haben? Wo ist Freiheit in Gefahr? Diese Fragen stellen die Jugendlichen und setzen das durchaus auch in Bezug zu ihrer eigenen Umwelt.
Zum Beispiel?
Jahn: Zum Beispiel sind sie im Anblick der Unmengen von Daten, die die Stasi gesammelt hat, sofort in den aktuellen Diskussionen über Datenmissbrauch im Internet. Da wird schon die Frage gestellt, wo hier und heute Freiheit in Gefahr ist und wie man sie schützen kann. Wobei – das ist mir wichtig – die Jugendlichen nicht das, was sie über die Diktatur erfahren, mit dem gleichsetzen, was sie an Unrecht hier erfahren. Die wissen dann schon um den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie.
Sie meinen den Unterschied zwischen der Stasi und der amerikanischen NSA?
Jahn: Zum Beispiel. Die Jugendlichen sehen die Unterschiede, wenn sie aufgeklärt werden, wie Diktatur funktioniert hat. Die Stasi war eine Geheimpolizei, deren Auftrag es war, die Macht einer Partei zu stützen. Der Auftrag von Geheimdiensten der Demokratie ist es, Freiheit zu schützen. Wird dort über die Stränge geschlagen, muss die Demokratie Instrumente einsetzen, um das in Ordnung zu bringen. Da gibt es viel tun, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Quelle: „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 28. Juli 2014)