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Grüne machen Merkel für "Durcheinander" bei ESM-Gesetz verantwortlich

Archivmeldung vom 21.06.2012

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 21.06.2012 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Marianne J. / pixelio.de
Bild: Marianne J. / pixelio.de

Mit scharfer Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) haben die Grünen auf die öffentliche Bitte des Bundesverfassungsgerichts an Bundespräsident Joachim Gauck reagiert, die Unterzeichnung der Gesetze zum Fiskalpakt und zum Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) aufzuschieben.

"Das Durcheinander und den Zeitdruck hat sich Merkel selbst zuzuschreiben", sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck, "Handelsblatt-Online". "Sie hätte entweder die ESM-Verabschiedung früher ansetzen müssen oder die Verhandlungen über den Fiskalpakt aus wahltaktischen Gründen nicht nach hinten verschieben dürfen."

Experten zweifeln an Inkrafttreten des ESM am 1. Juli

Das Centrum für Europäische Politik (CEP) hält es für "überwiegend nicht wahrscheinlich", dass der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM zum 1. Juli in Kraft treten kann. Es sei nämlich wahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Ratifizierung von deutscher Seite wegen der angekündigten Klagen gegen den ESM vorübergehend stoppen werde, heißt es laut der Tageszeitung "Die Welt" (Freitagausgabe) in einem Positionspapier des liberalen Thinktanks aus Freiburg.

Zur Bitte des Gerichts an Bundespräsident Joachim Gauck, mit seiner Unterschrift unter dem Gesetz zu warten, sagte Oliver Sauer, Verfassungsrechtler des CEP: "Wenn das Verfassungsgericht nicht der Meinung wäre, dass es etwas zu stoppen gäbe, würde es den Präsidenten auch nicht darum bitten." Dass das Gericht Gauck gebeten habe, mit der Ratifizierung zu warten, entspreche dem politischen "Modus vivendi": "Das Gericht bittet den Präsidenten natürlich erst vorsorglich." Zudem wäre "keineswegs verfassungsrechtlich zulässig", dass das Staatsoberhaupt eine Ratifizierung "gleichsam auf eigene Faust` veranlasste"; dies sei zwar bei einer Expertenanhörung im Haushaltsausschuss des Bundestags Anfang Mai angeklungen, sei aber grundsätzlich falsch. Sollte Bundespräsident Gauck die Ratifizierung nun tatsächlich nicht aussetzen wollen, "liefe er Gefahr, dass er vom Bundesverfassungsgericht per einstweiliger Anordnung dazu verpflichtet würde", heißt es in dem Papier des CEP.

Sauer betonte: "Das Bundesverfassungsgericht hat in Sachen ESM nämlich das letzte Wort - und nicht das Staatsoberhaupt." Das Fazit des Thinktanks zum ESM: Es ist mit einer "mehrmonatigen Verzögerung" bis zum Inkrafttreten zu rechnen.

Staatsrechtler hält Eiltempo bei Euro-Rettung für verfassungskonform

Der Staatsrechtler Joachim Wieland von der Verwaltungshochschule Speyer hält es rechtlich für unbedenklich, dass die Gesetze für den EU-Fiskalpakt und den Euro-Rettungsschirm ESM binnen weniger Stunden am kommenden Freitag durch Bundestag und Bundesrat gewunken werden sollen. "Die Verantwortung der Abgeordneten für die Zukunft des Euro und der Entscheidungsdruck bestehen völlig unabhängig von der Verfassungsrechtsprechung", sagte Wieland "Handelsblatt-Online". Er nahm dabei Bezug auf eine am Dienstag verkündete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge die Bundesregierung das Parlament bei Verhandlungen zur Euro-Rettung schneller und besser informieren muss.

Von dem CDU-Abgeordneten Klaus-Peter Willsch war daraufhin die Einschätzung geäußert worden, dass nach dem Karlsruher Urteil der bisherige Zeitplan zur Beschlussfassung über ESM und Fiskalpakt "unter keinen Umständen" aufrechterhalten werden könne, da sonst ein "handfester Konflikt zwischen Verfassungsorganen" drohe. Wieland sagte dazu, die Entscheidung der Richter habe "keine rechtlichen Auswirkungen" auf die Entscheidungen von Bundestag und Bundesrat über den Rettungsschirm ESM und den Fiskalpakt. "Ein Anlass für eine Verfassungskrise ist in keiner Weise ersichtlich", betonte der Jurist. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat würden zukünftig lediglich die Vorgaben beachten müssen, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt habe.

Gysi kritisiert Kauders Vorschriften gegenüber dem Bundespräsidenten

Linke-Fraktionschef Gregor Gysi hat Unions-Fraktionschef Volker Kauder vorgeworfen, dem Bundespräsidenten unzulässigerweise Vorschriften bei der Prüfung von Bundesgesetzen zu machen. Gegenüber der "Leipziger Volkszeitung" (Freitagausgabe) sagte Gysi vor dem Hintergrund der von vielen als öffentliche Ermahnung verstandener Einlassung Kauders an die Adresse Joachim Gaucks, der Bundespräsident möge die Gesetze zu den Euro-Rettungsmaßnahmen umgehend unterschreiben: "Der Bundespräsident ist das höchste Verfassungsorgan und er hat das Recht und die Pflicht, sich für diese Prüfung die Zeit zu nehmen, die er braucht. Ein Herr Kauder hat ihm entgegen seiner Auffassung diesbezüglich keine Vorschriften zu machen."

Ein Sprecher Kauders widersprach daraufhin der Einschätzung, der Fraktionschef der Union habe den Bundespräsidenten ermahnt. Kauder habe lediglich auf eine Frage nach dem erwarteten Handeln des Staatsoberhauptes geantwortet. Gysi widersprach entschieden Kauders öffentlicher Erklärung, der Bundespräsident habe kein Recht zur inhaltlichen Gesetzesprüfung: "Herr Kauder irrt schon dahingehend, dass ein Bundespräsident ein Gesetz nicht inhaltlich zu prüfen hat. Ein offensichtlich grundgesetzwidriges Gesetz darf der Bundespräsident nicht unterschreiben." Um dies auszuschließen oder festzustellen, müsse er es selbstverständlich inhaltlich prüfen.

Die Grünen-Fraktionsspitze zeigte gegenüber der LVZ gleichfalls völliges Unverständnis angesichts der Feststellungen Kauders zum Bundespräsidenten. "Das ist kontraproduktiv und wohl nur dem Stress und der Hektik zuzuschreiben", die Kauder umtreibe, sagte Renate Künast. Co-Fraktionschef Jürgen Trittin kritisierte gegenüber der LVZ: "Es ist nicht schön, den Bundespräsidenten öffentlich zu belatschern."

Kauder: Karlsruher ESM-Bedenken ohne Auswirkungen auf Bundestag

Die Bedenken des Bundesverfassungsgerichtes gegen eine schnelle Unterzeichnung des Euro-Stabilitätsmechanismus (ESM) werden nach Ansicht der Unionsfraktion an der beabsichtigten Beschlussfassung im Parlament nichts ändern. "Das hat keinerlei Auswirkungen auf den Zeitplan des Bundestages", sagte Fraktionschef Volker Kauder der "Rheinischen Post" (Freitagausgabe). Hier handele es sich um eine "Angelegenheit der beiden Verfassungsorgane", zu der er sich nicht äußere.

SZ: Gauck wird Gesetze zu Fiskalpakt und Rettungsschirm vorläufig nicht unterschreiben

Bundespräsident Joachim Gauck wird das die Gesetze zum Fiskalpakt und dem Euro-Rettungsschirm ESM, die am Freitag nächster Woche im Bundestag verabschiedet werden sollen, vorläufig nicht unterschreiben. Das berichtet die "Süddeutsche Zeitung" (Freitagausgabe). Der Europäische Stabilitätsmechanismus kann daher nicht wie geplant, zum 1. Juli in Kraft treten. Gauck entspricht einer Bitte des Bundesverfassungsgerichts, das zunächst über die Anträge auf einstweilige Anordnung gegen diese Gesetze entscheiden will. Es gehört zu den üblichen Verfahrensweisen, dass der Präsident in einer solchen Situation mit der Unterschrift und der Ausfertigung der Gesetze zuwartet.

Der Absichtserklärung des Präsidenten war laut SZ ein heftiges Gezerre hinter den Kulissen vorausgegangen. Das hätte einen in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie dagewesener Verfassungskonflikt heraufbeschworen, einen Streit zwischen den höchsten Institutionen des Staates. Offenbar wollte der Bundespräsident auf Drängen der Kanzlerin die einschlägigen Gesetze und Ratifikationserklärungen noch am Abend des 29. Juni, unmittelbar nach der Abstimmung im Bundestag und Bundesrat unterzeichnen. Dagegen wehrte sich das Bundesverfassungsgericht - das dann keine Möglichkeiten mehr gehabt hätte, die Gesetze im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu prüfen. Das höchste Gericht wäre ausmanövriert gewesen - ein Affront, wie es ihn bisher noch nicht gegeben hat.

Dem Bundesverfassungsgericht sind zahlreiche Klagen und Verfassungsbeschwerden angekündigt worden, die unmittelbar nach Verabschiedung von Fiskalpakt und Rettungsschirm am Freitag nächster Woche eingereicht werden sollen. Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - die Vertragswerke vorläufig bis zu einem Urteil des Gerichts zu stoppen - sind zum Teil schon eingegangen. In einem solchen Fall entspricht es den Gepflogenheiten, dass der Bundespräsident die Gesetze vorläufig nicht unterschreibt und so dem Gericht die Möglichkeit der vorläufigen Prüfung gibt - die üblicherweise nur wenige Wochen dauert.

Judith Blohm, die Sprecherin des Bundesverfassungsgerichts, äußerte die Erwartung, dass "sich der Bundespräsident nach den Verfassungstradition verhält und vor einer Prüfung durch das Gericht nicht unterschreibt." Das Gericht habe ihn zu diesem "üblichen Verhalten" gebeten. Das Bundespräsidialamt hatte nach SZ-Informationen auf diese Bitte zunächst verhalten bis ablehnend reagiert.

Regierungssprecher Steffen Seibert sagte dieser Zeitung, er könne "nicht bestätigen", dass es Absprachen zwischen der Kanzlerin und dem Bundespräsidenten gebe. "Bestimmte Abläufe" ergäben sich aber "aus dem erhofften Inkrafttreten der Gesetze am 1. Juli von selbst". Bundestag und Bundesrat haben äußerst wenig Zeit zur Beratung. Die einschlägigen Zustimmungsgesetze sind noch nicht einmal ganz ausformuliert.

Die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, die gemeinsam mit dem Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart die über 12000 Verfassungsbeschwerden der Initiative "Europa braucht mehr Demokratie" vertritt, sprach gegenüber der SZ von "absurder Hektik". Es gehe nicht an, dass der Bundespräsident "mit gezücktem Federhalter" darauf warte, das ihm die Gesetze zur schnellen Unterschrift vorgelegt werden.

Der Staatsrechtler Hans-Peter-Schneider, der zusammen mit dem Bielefelder Ordinarius Andres Fisahn die Organklagen und Verfassungsbeschwerden der Linken schreibt, sieht in dem Zeitplan einen manifesten Verstoß gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag dieser Woche, in dem Karlsruhe "eine breite öffentliche Diskussion" der europäischen Pakte im Bundestag gefordert hat. Peter Gauweiler, der eine Organklage angekündigt hat, sprach von einer Beleidigung des Parlaments und von Zuständen "wie beim Sonnenkönig Ludwig XIV". Es wird erwartet, dass das Bundesverfassungsgericht in eine äußerst gründliche Prüfung von Fiskalpakt und ESM eintritt. Es hat in zahlreichen Urteilen zu erkennen gegeben, dass die Möglichkeiten zur Abgabe von staatlicher Souveränität auf dem Boden des geltenden Grundgesetzes für erschöpft hält.

Quelle: dts Nachrichtenagentur

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