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Nicht-Ohne-Uns-Demo für die Grundrechte in Berlin

Archivmeldung vom 25.04.2020

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 25.04.2020 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Metropolico.org, on Flickr CC BY-SA 2.0
Bild: Metropolico.org, on Flickr CC BY-SA 2.0

Am 25. April, dem zweiten Samstag in Folge, gehen mehrere hundert Menschen in Berlin auf die Straße, um gegen die Einschränkungen der #Grundrechte durch die strengen Anti-Corona-Maßnahmen der Bundes- sowie der Landesregierungen zu protestieren. Dies teilt das russische online Magazin "Sputnik" mit.

Weiter ist hierzu auf der deutschen Webseite zu lesen: "Die Demo findet wieder am Rosa-Luxemburg-Platz statt und ist nach Polizeiangaben nicht angemeldet. Laut den Organisatoren beabsichtigt man mit der Aktion einen „demokratischen Widerstand für Verfassung, Grundrechte & transparente Gestaltung der neuen Wirtschaftsregeln durch die Menschen selbst“.

Medienberichten zufolge will die Polizei konsequent die Einhaltung der Abstandsregeln durchsetzen. Zur Zeit sind in der Bundeshauptstadt laut der Corona-Verordnung nur Demonstrationen mit höchstens 20 Teilnehmern und ausreichend Abstand zwischen ihnen erlaubt.

Aufruf für Ausstieg aus Lockdown

Mit deutlich kritischen Tönen melden sich Intellektuelle und Experten zunehmend in der Debatte um die Anti-Corona-Maßnahmen zu Wort. So fordern sechs von ihnen im Magazin „Der Spiegel“ die Maßnahmen so „rasch wie möglich“ deutlich zu lockern. Der Soziologe Wolfgang Engler kritisiert das massive Vorgehen nach dem Prinzip „Hauptsache gesund“.

„So rasch wie möglich“ sollen die drastischen Beschränkungen des gesellschaftlichen Lebens, der sogenannte Lockdown, beendet werden, die wegen des Virus Sars-Cov 2 politisch durchgesetzt werden. Das fordern sechs bundesdeutsche prominente Wissenschaftler und Experten in einem Beitrag im Magazin „Der Spiegel“, der am Freitag online veröffentlicht wurde. Sie fordern einen besseren und gezielten Schutz von Älteren und anderen Risikogruppen vor dem Virus, das laut Weltgesundheitsorganisation WHO die Krankheit Covid-19 auslöst.

Die Autoren betonen „die Tatsache, dass Covid-19 für die Bevölkerung nicht gefährlicher ist als die Grippe, wenn man bestimmte Risikogruppen und Menschen über 65 Jahren gezielt vor Infektionen schützt“. Die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, „dürfte für jüngere Altersgruppen ohne chronische Vorerkrankungen kaum größer sein als bei einer schweren Grippe“.

Namhafte kritische Stimmen

Das sagen neben dem Virologen Alexander Kekulé die Schriftstellerin und Brandenburger Verfassungsrichterin Juli Zeh, der Philosoph und ehemalige Staatsminister Julian Nida-Rümelin, Boris Palmer, Ex-Bundestagsabgeordneter der Grünen und Oberbürgermeister von Tübingen, der Ökonom Thomas Straubhaar und Christoph M. Schmidt, bis Februar Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Alle sechs hatten sich zuvor schon in die Debatte um die Anti-Corona-Maßnahmen eingemischt.

In ihrem „Spiegel“-Gastbeitrag schlagen sie eine andere Strategie vor, um das Virus an einer schnellen Ausbreitung zu hindern. Zwar meinen sie, dass die einschneidenden Beschränkungen anfangs notwendig gewesen seien und argumentieren dabei mit den „schrecklichen Bilder aus den überforderten Krankenhäusern Italiens“. Das folgt der Argumentation der Regierungen von Bund und Ländern und fragt nicht nach den Unterschieden zwischen der Ausgangssituation und bei den Ursachen in Deutschland und Italien.

Entsprechend werden die Bundesbürger gelobt, sich vernünftig verhalten zu haben und eine „erstaunliche Gemeinschaftsleistung“ vollbracht zu haben. Entsprechend der herrschenden politischen Linie wird gewarnt: „Die Krise kann sich jederzeit wieder zuspitzen, wenn wir zu unvorsichtig werden.“ Ähnliches war in den letzten Tagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren Beratern zu hören.

„Politik verfehlt Ziele“

Doch während Merkel am Donnerstag vor „zu forschen“ Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen warnte, befürchten die sechs Kritiker, dass der Lockdown das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Bundesrepublik auf Dauer ruiniert.

„Wir müssen Gesundheit, Wirtschaft und Rechtsstaat gleichermaßen schützen. So, wie wir es derzeit angehen, laufen wir Gefahr, alle drei Ziele zu verfehlen.“

Das Coronavirus befinde sich auf dem Rückzug, so die Autoren, während die Nebenwirkungen der Beschränkungen zunehmen würden. Die verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte seien „enorm beschränkt“. Gleichzeitig stünden private Haushalte wie zahlreiche Unternehmen am Rand ihrer Existenz. Das Geld stehe ebenso wie das Grundgesetz nicht dem Recht auf Leben gegenüber, betonen sie.

„Nur wenn die Wirtschaft funktioniert, können wir die Bürger mit grundlegenden Gütern versorgen, die Schwächeren in der Gesellschaft unterstützen und ein leistungsfähiges Gesundheitssystem aufrechterhalten.“

Die drohende Rezession sei nicht nur beispiellos und gefährde nicht nur Wohlstand und Arbeitsplätze, sondern ebenso die Lebensqualität und den Gesundheitszustand der Bevölkerung, wird festgestellt. Deshalb fordern die Sechs, „so rasch wie möglich“ aus dem Lockdown auszusteigen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und die Eingriffe ein die Grundrechte zu minimieren. Das solle so geschehen, dass ein „Wiederaufflammen der Gesundheitskrise“ verhindert werde.

„Nicht gefährlicher als die Grippe“

„Die jetzt eingeleiteten Lockerungsmaßnahmen können diesen Anspruch nicht erfüllen“, meinen die Autoren im „Spiegel“. Sie fordern einen Strategiewechsel, der sich an dem Umgang mit den jährlichen Grippe-Wellen orientiere. Wie bereits der Lungenarzt Wolfgang Wodarg und andere zuvor schreiben sie, dass die vom neuen Coronavirus ausgelöste Krankheit „nicht gefährlicher“ sei als die Grippe. Sie fügen hinzu, dass aber Risikogruppen und Menschen über 65 Jahren besonders geschützt werden müssten.

Die sechs Autoren erinnern daran, dass die Grippewellen laut Robert-Koch-Institut (RKI) jährlich bis zu insgesamt 25.000 Toten in allen Altersgruppen allein in Deutschland fordern. „Dieses Risiko nehmen wir als Gesellschaft hin, ohne über Lockdowns oder auch nur eine Impfpflicht nachzudenken – es ist der unausgesprochene Preis der Freiheit und des wirtschaftlichen Wohlstands.“

Neben dem Schutz der gefährdeten Gruppen spricht sich die Gruppe zugleich dafür aus, nicht alle Beschränkungen für die Bevölkerung aufzuheben. Sie schlagen dafür das Konzept des „Smart Distancing“ vor: Einsatz von einfachem Mund-Nasen-Schutz beim Einkaufen, in öffentlichen Transportmitteln und ähnlichen Situationen, bessere Nachverfolgung von Kontakten, flächendeckende Schnellteste.

Kritik an Beschneidung der Grundrechte

Sie sprechen sich dafür aus, gefährdete Risikogruppen und Ältere nicht durch Zwangsmaßnahmen zu diskriminieren. Stattdessen müsse es für diese Gruppen gezielte Schutzmaßnahmen wie spezielle Schutzmasken geben und die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden. Ebenso müsse das Klinik- und Pflegepersonal besser geschützt werden.

Aus Sicht der Autoren müssen alle Maßnahmen das Kriterium der Verhältnismäßigkeit beachten. Sie dürften die individuellen Freiheitsrechte, die in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes festgeschrieben seien, nur mit der „geringsten Eingriffsintensität“ beschneiden.

„Momentan werden die Grundrechte für die gesamte Bevölkerung in manchen Bereichen fast auf null gesetzt.“

Wenn die Anti-Corona-Maßnahmen nicht differenzierter und gezielter ausgerichtet werden, drohe ein Lockdown, „bis ein Impfstoff bereitsteht. Dies wird frühestens in einem Jahr, vielleicht deutlich später oder auch nie der Fall sein - bisher gibt es gegen keines der zahlreichen bekannten Coronaviren einen Impfstoff.“ Es werden „neue Testverfahren, modernste Datentechnik und ein breiter gesellschaftlicher Konsens“ gefordert.

Warnung vor gravierendem Schaden

Letzterer sei notwendig, um mit den neuen Risiken umzugehen und die gesellschaftlichen Lasten gerecht zu verteilen. Die sechs Autoren warnen vor „einer für Gesellschaft und Wirtschaft viel zu vorsichtigen“ Öffnung, die zu wenig die Unterscheide beachtet. Bleibe es dabei, „müssen wir gleichzeitig gravierenden Schaden und viele schwere Erkrankungen befürchten“.

„Die Befürchtung, dass Notstandsgesetze die Bedingungen überdauern, die sie hervorriefen, ist nur allzu berechtigt.“ Das stellte in dem Zusammenhang der Soziologe Wolfgang Engler in einem Beitrag in der „Berliner Zeitung“ am Dienstag fest.

„Was seit der Flüchtlingskrise Menschenrechten geschah, widerfährt nun Bürgerrechten in Form von äußeren und inneren Grenzschließungen, der Aufhebung von Reisefreiheit, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, Ausgangssperren, Leben in der Quarantäne unter polizeilicher Kontrolle, digitalem Tracking; Hauptsache gesund.“

„Die Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen weckt Bedürfnisse, sie beizubehalten, wenn das Schlimmste überstanden ist“, was besonders für föderal verfasste Gesellschaften wie die der Bundesrepublik problematisch. Dagegen würde das „autokratisch regierten Staaten“ entgegen kommen. Aus Englers Sicht „besteht kein Grund, den Regierenden blind zu vertrauen. Zweifel an ihrer Eignung als treue, entschlossene Sachwalter des Allgemeinwohls sind vielmehr angebracht.“

Blamage für neoliberale Ideologie

Er erinnert an die jahrzehntelange neoliberale „einseitige Parteinahme zugunsten der Besitzenden und Bessergestellten, die Hofierung von Selbsthelfertum, Egoismus und sozialer Vergesslichkeit“. Das habe „den Gemeinsinn der Regierten über Jahrzehnte arg strapaziert“. Für den Soziologen ist es scheinheilig, wenn Politiker verschiedener Ebenen beklagen, dass manche der Bürger den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen hätten.

„Längst ist nicht ausgemacht, ob Lastenverteilung und Schadensabwicklung diesmal gegen alle Regel nach dem Grundsatz der Bedürftigkeit vonstatten gehen.“

Eine „simple Rückkehr zum Status quo ante marktkonformer Politik“ hält Engler für unwahrscheinlich. Der Krisenverlauf in einzelnen Ländern mache den Zusammenhang von neoliberaler Politik und der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Sozialsysteme deutlich. Er schätzt ein:

„Je rigider die Sparzwänge, je durchgreifender die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, desto größer die Überlastung der Systeme, desto schlechtere Verlaufskurven, desto mehr Infizierte, Alleingelassene, Sterbefälle, das wäre zu erwarten. Trifft die Erwartung ein, steht die Leitideologie unserer Epoche kolossal blamiert am Pranger.“"

Quelle: Sputnik (Deutschland)


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